1. Einleitung
Die Stadt Ratzeburg liegt abseits der großen
Verkehrslinie von Norden nach Süden. Die Bemühungen,
bessere Verkehrs- und damit Handelswege zu erhalten,
reichen etliche Jahrhunderte zurück. Hier soll ein
Kapitel Verkehrs- und Handelsgeschichte aufgeblättert
werden, das gleichsam als der letzte Versuch, die
Verkehrsverbindungen groß auszubauen, um dadurch
verbesserte Kommunikationswege und -mittel zu erhalten,
betrachtet werden kann. Es ist der letzte Versuch,
Ratzeburg aus Not und drohender Verarmung zu retten, so
jedenfalls kann man es in vielen Eingaben zur
Errichtung einer Kleinbahn lesen. Der Bau von
Kleinbahnen war in den Jahren um die Jahrhundertwende
durchaus nichts Seltenes; auch einen speziellen
Kleinbahnfonds gab es im preußischen Staatsetat. Ja,
beinahe war es schon eine Modeerscheinung, Kleinbahnen
zu bauen. Nicht immer waren die Ertrags- und
Rentabilitätsberechnungen objektiv gehalten, so daß es
schon nach wenigen Jahren ein bitteres Erwachen gab.
Diese Modeerscheinung wurde dabei noch nicht einmal
durch die Ernüchterung des 1. Weltkrieges eingeschränkt,
das Kleinbahnwesen oder -unwesen blühte weiter 1). Ob nun
die Kleinbahn Ratzeburgs Rettung war, soll im Anschluß
untersucht werden.
2. Vorgeschichte
Als in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts die
Lübeck-Büchener Eisenbahn geplant wurde, sah Ratzeburg
eine Chance, - ohne selbst etwas dafür zu tun - eine
Eisenbahnverbindung zu erhalten. Man wollte die Bahn
hinunterführen an den Fuß St. Georgsbergs, aber die
großen Steigungen stellten auf der einen Seite ein
technisches, auf der anderen Seite ein finanzielles
Problem dar. Ratzeburg hätte Bahnstation werden können,
wenn es bereit gewesen wäre, die Mehrkosten zu
übernehmen, die die Linienführung über Ratzeburg
verursacht hätte. Diese Belastung erschien der Stadt
damals zu groß, so wurde der Bahnhof in Neuvorwerk
gebaute 2).
Zur Zeit der Reichsgründung 1871 bot sich dann erneut
eine Möglichkeit, die Stadt Ratzeburg an das inzwischen
schon stark ausgebaute Eisenbahnnetz anzuschließen. Dies
war, als das Projekt einer Verbindung der Städte Hagenow
und Bad Oldesloe auftauchte. Der Magistrat wandte sich
zusammen mit dem Amt Ratzeburg an den Minister für
Handel, Gewerbe und Industrie mit der Bitte, diese
Strecke über Ratzeburg zu führen. Es bestanden auch
Pläne, die Bahnlinie von Bad Oldesloe über Mölln nach
Hagenow zu bauen, aber aufgrund der Ratzeburger Eingaben
wurde diese Linie an den Ratzeburger Bahnhof
angeschlossen. Die Forderung, einen zweiten Bahnhof am
Fuße von St. Georgsberg anzulegen und somit Ratzeburg
direkt anzubinden, scheiterte an dem dadurch
entstehenden zu großen Kostenaufwand. ,Bei den
allgemeinen Vorarbeiten, welche der Geldbewilligung für
die Hagenow-Oldesloer Bahn zu Grunde liegen, ist die
Lage des Bahnhofes bei Ratzeburg im unmittelbaren
Anschluß an den der Lübeck-Büchener Bahn angenommen,
weil verschiedene Versuche, denselben in die Nähe des
Sees zu verlegen, eine Kostenvermehrung von 1200000 Mark
verursacht
1) Eingehende Untersuchungen hierzu sind noch nicht
publiziert. Die Geschichte der lauenburgischen Kreisbahn
sowie der vielen Nebenbahnprojekte ist noch zu
schreiben.
2) Das Problem der Linienführung und des Bahnhofes
außerhalb Ratzeburgs wird in einem der nächsten Hefte
der Lauenburgischen Heimat untersucht werden.
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haben würden.
Infolge der eben erwähnten, sowie verschiedener anderer
Eingaben, ist nun eine nochmalige Prüfung eingetreten,
doch hat auch diese nur eine sehr geringe Abminderung
dieser Mehrkosten ermöglicht, so daß deren immer noch
1186200 Mark verbleiben. Wir ersuchen daher den
Magistrat eine Entscheidung der Stadtvertretung darüber
herbeizuführen, ob sie zur Übernahme dieser Mehrkosten
bereit ist" 3). Die Stadtvertretung war nicht bereit,
dennoch wandte sie sich noch einmal in einem
Immediatgesuch an den Kaiser, doch auch er konnte am 25.
Juli 1892 nur das wiederholen, was die
Eisenbahndirektion 6 Wochen vorher bereits mitgeteilt
hatte. Ratzeburg blieb also fürs erste weiter ohne
direkten Bahnanschluß.
3. Entstehung der Ratzeburger Kleinbahn
Die ersten beiden Anläufe, Ratzeburg mit einer Eisenbahn
zu verbinden, waren also gescheitert. Doch die Stadt gab
nicht auf. Am 5. September 1894 richteten die
Gewerbetreibenden Ratzeburgs ein Bittgesuch an den
Minister der öffentlichen Arbeiten in Berlin. Sie baten
um die Übernahme der Kosten für eine Nebenbahn vom
Bahnhof zur Stadt Ratzeburg 4). Aus Billigkeit schon
müßte Ratzeburg eine Eisenbahnverbindung erhalten, denn
1. hat Mölln eine Nebenbahn erhalten, zu deren Bau der
Staat 1 Million Mark beigetragen, 2. hatte der Staat
auch den Elb-Trave-Kanal finanziell mit 7 Millionen, der
Kreis mit 600000 Mark gefördert. Der Elb-Trave-Kanal
aber wäre ausschließlich Interessengebiet Lübecks. Bei
solchen staatlichen Beteiligungen wäre es eine klare
Benachteiligung der kleineren Städte, wenn keine
Bahnverbindung der Stadt Ratzeburg zustande käme. Dieses
Bittgesuch wurde von 145 Gewerbetreibenden, das müssen
nahezu alle der in Ratzeburg ansässigen gewesen sein,
und 53 Personen, vor allem Bürgermeister und Kaufleute
aus den umliegenden Gemeinden, unterschrieben. Das war
allein schon von der Zahl der Unterschriften her eine
mächtige Petition, ganz abgesehen davon, daß die
angeführten Gründe nicht so einfach von der Hand zu
weisen waren. Die Bevorzugung Möllns wurde gerade im
Eisenbahnwesen deutlich und häufig beneidet. Das
Bittgesuch der Gewerbetreibenden wurde noch durch einen
Bericht des Majors v. Bosse bei dem in Ratzeburg
garnisonierten lauenburgischen Jägerbataillon Nr. 9
unterstützt. Er bezeichnete eine Bahnverbindung
Ratzeburgs als ein dienstliches Anliegen. Die Garnison
bestand 1894 aus 680 Personen, das entsprach etwa einem
Sechstel der gesamten Einwohnerschaft. Wenn eine
Eisenbahn durch Ratzeburg führen würde, so könnte die
Garnison erhebliche Kosten für Rollgeld sparen. Das war
zu zahlen 1. für das alle 4 Tage aus Altona eingehende
Soldatenbrot, 2. monatlich für die aus Schwerin
kommenden Futterrationen für Pferde und sonstige
Verpflegungsvorräte, 3. für einzuliefernde Bekleidungs-
und Ausrüstungsstücke und 4. für die Anfuhr der
Steinkohle und Munition 5).
3) Schreiben der Eisenbahndirektion Altona an Magistrat
Ratzeburg am 10. 6. 1892, zitiert nach 1.
Geschäftsbericht der Ratzeburger
Kleinbahn-Aktien-Gesellschaft, 1904, S. 3.
4) Es muß zwischen den Begriffen Nebenbahn und Kleinbahn
unterschieden werden. Nebenbahnen sind Eisenbahnen, die
von den Hauptstrecken abzweigen, dem Gesetz über
Eisenbahnunternehmungen vom 3. 11. 1838 (Preuß.
Gesetzsammlung S. 505) unterstehen und vom Staat
unterhalten werden. Mit dem Gesetz über Kleinbahnen und
Privatanschlußbahnen vom 28. 7. 1892 (G. S. S. 225 ff)
wird der Begriff Nebenbahn aufgeteilt. § 7 definiert:
Kleinbahnen sind die dem öffentlichen Verkehre dienenden
Eisenbahnen, welche ihrer geringen Bedeutung für den
allgemeinen Eisenbahnverkehr dem Gesetze über die
Eisenbahnunternehmungen vom 3. November 1838 nicht
unterliegen. Insbesondere sind Kleinbahnen der Regel
nach solche Bahnen, welche hauptsächlich den örtlichen
Verkehr innerhalb eines Gemeindebezirkes oder
benachbarter Gemeindebezirke vermitteln, sowie Bahnen,
welche nicht mit Lokomotiven betrieben werden.
Ob die Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Gesetzes
vom 3. November 1838 vorliegt, entscheidet auf Anrufen
der Beteiligten das Staatsministerium".
5) Seit langem überfällig ist eine Untersuchung über die
soziale und wirtschaftliche Bedeutung der Garnison im
Stadtgefüge. Es scheint sehr unnötig und eine erhebliche
Geldverschwendung, wenn Brot aus Altona und Pferdefutter
aus Schwerin angefahren werden muß, wo doch diese Dinge
aus der Stadt selbst oder den umliegenden Dörfern
bezogen werden könnten.
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Am 11. 9. 1894,
als der Magistrat die Gesuche an den Minister
weiterreichte, fügte er noch hinzu, daß durch die
Hagenow-Oldesloer Bahn Schmilau zum Bahnhof für die
Landbevölkerung geworden war, da die Straßen nach
Ratzeburg zu schlecht und für Pferdefuhrwerke zu
beschwerlich waren. Sämtliche landwirtschaftlichen
Produkte würden jetzt dort verfrachtet. Das bedeutete
für Ratzeburg eine erhebliche Schädigung. Ein anderer
Teil der Fracht ginge gleich nach Zarrentin. Durch diese
Faktoren sah sich Ratzeburg in seiner wirtschaftlichen
Entwicklung sehr eingeengt. Der Bürgermeister erbat eine
persönliche Audienz beim Minister, um die Sachlage
mündlich und mit noch mehr Nachdruck darstellen zu
können.
Die Ratzeburger machten sich bei diesem dritten Anlauf
noch einmal stark, und man darf gespannt sein, wie die
obersten Behörden reagieren würden. Am 20. September
1894 waren Bürgermeister Hornbostel und Senator Spehr
beim Minister. Dieser versicherte sie seines
Wohlwollens, doch mit dem vorgelegten Plan wäre er noch
nicht einverstanden, denn eine Steigung von 1 : 25
könnte keine Adhäsionsbahn überwinden, dazu müßte eine
Zahnradbahn in Betrieb genommen werden, was aber nur
hohe Kosten hervorrufen würde. Das beste wäre, einen
neuen Plan vorzulegen. Durch diese Audienz wurde nichts
entschieden, und es blieb abzuwarten, wie, wenn
überhaupt, sich das Wohlwollen des Ministers bemerkbar
machen würde. Um aber auch die untergeordneten
Ministerialbeamten für sich einzunehmen, sprach die
Ratzeburger Abordnung noch bei dem Regierungsbaurat Koch
und beim Ministerialdirektor Schröder vor. Sechs Wochen
noch dem Besuch richtete der Magistrat ein neues Gesuch
an den Minister, in dem auch auf das neue Gesetz für
Kleinbahnen hingewiesen wurde. Eine Kleinbahn wollte man
nicht; sie würde eine andere Spurweite haben als die
Hauptbahn, aber nur durch die Gleichspurigkeit könnte
der Ratzeburger Bahnhof entlastet werden und der Staat
Personal einsparen. Eine normalspurige Anschlußbahn
würde Ratzeburg vor dem langsamen Ruin bewahren. Der
Güter- und Viehverkehr mit dem Hinterland wäre bedeutend
und die Konkurrenz von Schmilau groß. Auch die
Gewerbetreiebnden könnten bei direktem Bahnanschluß ihre
Waren billiger ein- und verkaufen. Die Preissenkung bei
den Gewerbetreibenden und Kaufleuten wäre für die
Bevölkerung bedeutend.
Vier Gründe zur Ausführung der Bahn wurden angeführt:
„I. Ratzeburg zu schützen, daß es durch die
Absperrung von Allen in den letzen Jahren bewilligten,
gegenwärtig zur Ausführung gelangenden Verkehrsstraßen
geschäftlich nicht vollständig zu Grunde gerichtet wird.
II. Der Ratzeburg vollständig abschließende
Elb-Trave-Kanal wird die Stadt erheblich schädigen.
III. Der Bau der Bahn Hagenow-Oldesloe in seiner
jetzigen Ausführung wird der Stadt mehr Schaden als
Vortheil bringen.
IV. Die Strecke Sterley-Mölln wird Ratzeburg
empfindlich benachtheiligen; Grade im Schollengebiet
liegen lohnende geschäftliche Verbindungen Ratzeburgs"
6).
Auch wären
Vorteile für den Staat und den Kreis Herzogtum Lauenburg
nicht von der Hand zu weisen. So würden der zweispännige
Postwagen zur Bahn und die Kosten für An- und
Abtransport der Güter für das Jägerbataillon, wie im
Bericht des Majors bereits erwähnt, eingespart werden
können. Auch wäre ein stärkerer Besuch des Gymna-
6) Gesuch Ratzeburg an Minister der öffentlichen
Arbeiten 5. 11. 1894, Stadtarchiv Ratzeburg (StA RZ) 1
B19.
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siums durch Schüler aus den umliegenden Gemeinden, auch
aus Mölln, Zarrentin und Wittenburg zu erwarten. Nicht
zuletzt könnte der Fremdenverkehr durch die Bahn
erheblich gesteigert werden. Als Grund für den Bahnbau
eine größere Frequentierung des Gymnasiums anzugeben,
scheint doch wohl etwas an den Haaren herbeigezogen.
Alles in allem sind die Gründe nur für einen kleinen
Bereich, nämlich Ratzeburg und seine nähere Umgebung,
geltend zu machen. Die Gründe entsprechen also genau den
für die Genehmigung einer Kleinbahn aufgeführten
Bedingungen. Eine Nebenbahn konnte daher nicht in Frage
kommen. So entschied auch der Minsiter am 12. 12. 1894,
daß für die Ratzeburger Verhältnisse „vielmehr eine
Kleinbahn, deren Bau und Betrieb der Privatindustrie
überlassen bleiben müßte, vollständig genügen"
würde 7).
Eine Kleinbahn allerdings paßte den Ratzeburgern
überhaupt nicht ins Konzept, dadurch würde die Stadt
erneut benachteiligt werden. So wandte sich der
Bürgermeister an den Landrat und begründete die Anlage
einer Nebenbahn. Wenn keine normalspurige Bahn gebaut
werden könnte, so müßte auf dem Ratzeburger Bahnhof
umgeladen werden, was die Frachtkosten wiederum erhöhen
würde. Die Bauern führen dann gleich nach Schmilau, das
aber war eine der größten Befürchtungen Ratzeburgs.
Schrrilau sollte unter allen Umständen ausgeschaltet
bleiben. Durch die auf der NebenLohn entstehenden
geringeren Frachtkosten senkten sich die
Produktionskosten der Handwerker, was wiederum eine
wachsende Prosperität der gesamten Stadt zur Folge
hätte. „Es ist also eine unter II des Gesetzes über
Kleinbahnen vom 28. Juli 1892 fallende normalspurige
Anschlußbahn an die Linie Hagenow-Oldesloe, das einzige
Mittel, um Ratzeburg vor dem völligen Ruin zu schützen"
8).
Der Landrat unterstützte die Ratzeburger Wünsche. Er sah
den Verkehr sich völlig von Ratzeburg nach Mölln
verlagern, auch der Handel über den Ratzeburger See
wurde durch die Verlegung des Wakenitz-Anlegeplatzes
stark eingeschränkt. Außerdem wäre Ratzeburg ohnehin
durch seine geographische Lage benachteiligt, es könnte
sich nur in eine Richtung nach Nordosten ausdehnen und
wäre durch die Nähe Lübecks in seinem Handel
beeinträchtigt. Eine Kleinbahn, die nicht aus
Staatsmitteln finanziert werden könnte, wäre bei
Ratzeburgs schwacher Finanzsituation nicht tragbar. „Zur
Zeit sind die finanziellen Verhältnisse der Ratzeburger
Bürgerschaft durch die vor mehreren Jahren erfolgten
Veruntreuungen bei dem hiesigen Spar- und Vorschußverein
ruiniert. Zahlreiche Concurse sind bereits ausgebrochen
und weitere Existenzen sind gefährdet". Die einzige
Rettung Ratzeburgs wäre in der Anlage einer Nebenbahn zu
erwarten.
„Aus diesen Gründen, weil die Zweigbahn vorwiegend den
Frachtverkehr fördern soll, sieht Ratzeburg nur in einer
Nebenbahn, nicht aber auch in einer Kleinbahn Vortheile".
Auch eine Kleinbahn mit Normalspur wäre unzureichend.
„Das Interesse des Staates an dem Bau der Zweigbahn
liegt zunächst darin, eine Stadt, deren Bevölkerung sich
stets durch hervorragende Loyalität ausgezeichnet hat,
vor dem wirtschaftlichen Ruin zu bewahren"9). In dem
Landrat hatten die Ratzeburger einen guten Fürsprecher
gefunden, allerdings mit dem loyalen, d. h.
regierungsfreundlichen Verhalten der Einwohner zu
argumentieren, kommt einer kleinen politischen
Erpressung gleich. Sei's drum, auch der
Regierungspräsident empfahl dem Oberpräsidenten, sich
für den Bau einer Nebenbahn einzusetzen. Das entsprach
aber mehr einem Wunsch als der
7) Landesarchiv Schleswig-Holstein in Schleswig (LAS)
Abt. 309/10289
8) ebenda, Bürgermeister an Landrat am 28. 1. 1895.
9) ebenda, Landrat an Regierungspräsident am 2. 2. 1895.
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Realität, wonach die Bahn aus ihrer Bestimmung heraus
nur als Kleinbahn gebaut werden konnte. Das wurde auch
dem Magistrat nach einer Besprechung mit der
Eisenbahndirektion in Altona klar.
Die Stadt aber verfügte über keine ausreichenden Mittel,
den Bau finanziell wesentlich zu fördern. Da die
Rentabilität einigermaßen gesichert schien und vom Kreis
Herzogtum Lauenburg die kostenlose Überlassung des Grund
und Bodens zu erwarten war, stellte der Magistrat am 22.
7. 1895 beim Oberpräsidenten den Antrag auf eine
Staatsbeihilfe von 300000 Mark; das war die
vorausberechnete Bausumme. „Eurer Exellenz würden durch
Gewährung unserer Bitte Ratzeburg, Hort königstreuer
Gesinnung, welche Stadt sich zur Zeit ohne ihr
Verschulden im wirtschaftlichen Niedergange befindet,
hoch beglücken" 10).
Das von der Eisenbahndirektion Altona erforderte
Gutachten schränkte den Optimismus auf einen baldigen
Bahnbau ein. In dem von der Stadt vorgelegten Entwurf
befand sich der Bahnhof immer noch 400 m von der Stadt
entfernt, darin sah Altona eine wesentliche
Rentabilitätsminderung, da der Personenverkehr dadurch
beeinträchtigt werden würde. Außerdem schien die
Linienführung noch nicht optimal, da erhebliche
Steigungen zu überwinden waren, die eine besondere
Konstruktion bei den Lokomotiven erforderlich gemacht
hätte. Deshalb wurde eine neue Linie mit einer
geringeren Steigung vorgeschlagen, auf der auch
Maschinen normaler Bauart fahren konnten. Das von der
Stadt geplante Empfangsgebäude wurde als nicht notwendig
erachtet. Dennoch ergab eine grobe Kostenschätzung den
Betrag von 336-351 000 Mark, also 10 bis 20% mehr als
von der Stadt berechnet.
Das definitive Ende des Nebenbahnprojektes verkündete
die Eisenbahndirektion am 10. 8. 1895. Wenn Ratzeburg
eine Eisenbahn haben wollte, so sollte es sie alleine
bauen oder eine Privatfirma dafür interessieren. „Wir
sind bei Prüfung ... zu dem Schlusse gelangt, daß wir
die Übernahme des Baues und Betriebes einer
Verbindungsbahn zwischen Stadt und Bahnhof Ratzeburg
durch die Staatsbahnverwaltung weder nach dem
vorgelegten noch nach einem weiteren Entwurfe empfehlen
können" 11).
Die Bahn mußte also, wenn sie zustande kommen sollte,
von einem Privatunternehmen gebaut werden. Dabei stiegen
die Kosten von Jahr zu Jahr. Am 25. 10. 1895 bat der
Magistrat der Stadt Ratzeburg um einen staatlichen
Zuschuß von 360000 Mark, die restlichen Gelder wollte
man anderweitig besorgen. Vorbehaltlich einer genauen
Rentabilitätsberechnung stimmte der Kreisausschuß am 13.
1. 1897 der unentgeltlichen Hergabe des benötigten
Terrains zu. Im März 1897 erhielt die Stadt Ratzeburg
dann das erste Angebot von der Eisenbahnbau-Gesellschaft
R. Burchard u. Co. in Berlin. Die Gesellschaft wollte
auch die ganzen Kosten übernehmen, doch die Stadt wollte
auf einer Staatsbeteiligung bestehen, so daß sich das
erste Angebot zerschlug.
Der Regierungspräsident stand dem Projekt nach wie vor
„durchaus sympathisch" gegenüber, doch bei der geringen
Eigenleistung der Stadt, etwa 45000 Mark waren
vorgesehen, konnte er günstigenfalls die Übernahme von
1/3 der Kosten aus Staatsmitteln zusagen. Immer noch
ungeklärt und zweifelhaft schien die Rentabilität,
deshalb sollten die Eisenbahndirektionen in Altona und
Lübeck eingeschaltet werden. Die Direktion der
Lübecker-Büchener Eisenbahn-Gesellschaft erklärte sich
am 22. 12. 1897 grundsätzlich bereit, mit der Kleinbahn
zusammenzuarbeiten, sofern sie
10) StA RZ 1 B 19
11) LAS 309/10289, Eisenbahndirektion Altona an
Oberpräsident am 20. 8. 1895.
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kein Risiko zu tragen brauchte. Im Gegensatz dazu lehnte
die Eisenbahndirektion Altona eine direkte
Zusammenarbeit ab, da direkte Verbindungen zwischen
Staatsund Kleinbahnen, insbesondere was die gemeinsamen
Tarife anbelangt, nicht zustande kommen sollten.
Grundsätzlich hatte Altona als Gutachter für den
Regierungspräsidenten nichts gegen den Bau einzuwenden.
Wenn die Finanzierung sicher gestellt wäre, sollte man
erneut einen Antrag auf Genehmigung beim Minister
stellen. Angesichts der schlechten Verkehrsverbindungen
und der wirtschaftlichen Schwäche Ratzeburgs
befürwortete die Direktion einen möglichst reichlich
bemessenen Staatszuschuß 12).
Neben der finanziellen Frage tauchten die gemeinsamen
Tarife mit den Staatsbahnen als sehr wichtiger Punkt
auf. Deshalb erbat der Magistrat vom Minister:
"1. Übergang des Wagenmaterials der Staatsbahn auf die
geplante Bahnlinie.
2. Wenigstens von den größeren Stationen aus die Ausgabe
direkter Fahrkarten und direkter Expedirung von
Reisegepäck nach Ratzeburg Stadt.
3. Die Ausgabe gleicher Fahrkarten pp. von Ratzeburg
Stadt aus.
4. Eine direkte Abfertigung der Güter nach Ratzeburg
Stadt und von Ratzeburg Stadt.
5. Die Überlassung der Hälfte der Expeditionsgebühr für
Güter."
Die Kleinbahn sollte als normalspurige Bahn gebaut
werden, wie sie den Bestimmungen für Staatsbahnen
entsprach. In fast jedem Brief findet sich als
Schlußsatz mit Hinweis auf die schwache wirtschaftliche
Stellung: „Eine kleine Commune aber vor solchem
Niedergange zu bewahren und einer so königstreu
gesinnten Stadt aufzuhelfen dürfte eine Aufgabe würdig
des Staates sein" 13).
Die wesentliche Sorge war zu diesem Zeitpunkt aber immer
noch die finanzielle Beteiligung des Staates, obwohl der
Minister bereits 1896 seine Unterstützung zugesagt
hatte. „Fahren Sie ruhig nach Hause meine Herren, mir
sind ungünstigere Verkehrsverhältnisse bekannt, für
Ratzeburg soll in dieser Beziehung etwas getan werden"
14). Aus eigenen Mitteln konnte die Stadt kaum etwas
aufbringen, sie war notorisch arm. Diese Armut wurde im
besonderem Maße hervorgerufen durch den Kasernenbau für
das Jägerbataillon und durch die Unterhaltung des
Lehrerseminars. Sobald der Staatszuschuß sichergestellt
sein würde, sollte eine Firma mit der Ausführung des
Baus beauftragt werden. In engerer Wahl standen 1898 die
Unternehmungen Lenz u. Co., Fehring & Waechter und
Ohrenstein & Koppel.
Ein Staatszuschuß wäre zu begrüßen, doch sei er noch
nicht spruchreif, teilte der Minister am 8. 8. 1898 dem
Magistrat mit. „Ferner ist anzuerkennen, daß Gründe für
eine ausnahmsweise hohe Bemessung der zu gewährenden
Staatsbeihilfe vorliegen"'). Mit einer Staatsbeteiligung
von zwei Dritteln könnte jedoch nicht gerechnet werden;
nur der gleiche Betrag wie Stadt und Kreis zusammen
aufbrächten, käme in Frage. Sodann bestand die
Möglichkeit, diese Kleinbahn ebenso zu unterstützen wie
kurz zuvor die Bahn von Rendsburg nach Hohenwestedt, wo
450000 Mark Zuschuß gezahlt
12) ebenda, Brief vom 21. 4. 1898
13) StA RZ 1 B 19, Brief des Magistrats Ratzeburg an den
Minister vom 22. 5. 1898.
14) ebenda, Brief des Magistrats an Regierungspräsident
24. 5. 1898
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wurden. Das bedeutete aber für die Stadt Ratzeburg,
erheblich tiefer in die Tasche zu greifen, denn der
Kreis Herzogtum Lauenburg hatte bislang nur die
kostenlose Überlassung des Landes zugesichert.
Es galt jetzt, sehr sorgfältig den zu erwartenden Nutzen
zu berechnen, bevor sich die Stadt mit einer
beträchtlichen Summe verschuldete. Das Steueraufkommen
war nicht sehr bedeutend, seit der Besitzergreifung des
Herzogtums durch Preußen, ging die Bevölkerungszahl
zurück, die Kaufleute und Gewerbetreibenden waren wegen
der zu hohen Preise nicht konkurrenzfähig.
Industrieansiedlungen gab es in Ratzeburg nicht, und
damit war in absehbarer Zeit auch nicht zu rechnen. Die
Kasernenbauten und das Lehrerseminar verschlangen große
Summen. Wenn aber für die zu erbauende Kleinbahn direkte
Tarife mit den Staatsbahnen genehmigt werden würden,
dann könnte Ratzeburg aus seiner Misere befreit werden,
so dachte jedenfalls der Magistrat 16).
Welche Gewerbetreibende sollten für eine Verbesserung
der Finanzsituation mit Hilfe der Kleinbahn sorgen? Es
waren 1898 ansässig: 3 Getreidemühlen mit einer
Produktion von 6000 t Mehl jährlich, 3 kleinere
Windmühlen, 1 Lohmühle, 1 Ziegelei mit einer Produktion
von 2 Millionen Steinen jährlich, 2 Schneidemühlen, 1
Knochenmühle, 1 große Genossenschaftsmeierei, 1
Dampfbrauerei mit einer Produktion von 15000 hl
jährlich, 1 kleine Brauerei für Braunbier, 1
Maschinenfabrik, 2 Niederlagen für landwirtschaftliche
Maschinen, 1 Tuchfabrik, 1 Gasanstalt, 2
Wagenbauanstalten, 1 große Lohgerberei, 2
Holzhandlungen, 2 große Getreidehandlungen und 2 große
Manufakturgeschäfte. Sicherlich hatten alle diese
Betriebe etwas per Bahn zu versenden, ob die Produkte
aber so gewichtig waren, bleibt zumindest zweifelhaft.
Hinzu kam noch, daß Ratzeburg für sich in Anspruch nahm,
Durchgangsort für landwirtschaftliche Güter zu sein.
Allerdings zog die Bahnstation Schmilau hiervon einen
großen Teil auf sich, diese Konkurrenz sollte durch die
Kleinbahn ausgeschaltet werden. Ob dies möglich war, muß
bezweifelt werden, denn der Weg von den östlichen
Gemeinden nach Ratzeburg Stadt war immer noch
beschwerlich. Mit Ratzeburg als Einkaufszentrum ließ
sich ebenfalls schlecht argumentieren, denn hier war für
die östlichen Gemeinden Schönberg meist lukrativer. So
blieb als einziges der Touristenverkehr, der sich Jahr
für Jahr steigerte. 1894 kamen in Ratzeburg Bahnhof
72372 Personen an, und 73204 fuhren von hier ab, 1895
waren es 77610 Ankommende und 77612 Personen, die vom
Ratzeburger Bahnhof abfuhren.
Der Ausflugsverkehr war aber städtisches Interesse und
für den preußischen Staat wenig bedeutend. Dennoch:
,Hier dürfte es eine Aufgabe würdig des Preußischen
Staates nach dem Wahlspruch suum quique sein,
ausgleichende Gerechtigkeit walten zu lassen und
wenigstens unserer bescheidenen Bitte um Gewährung
direkter Tarife zu willfahren ... Wenn aber eine
Privatbahn derart entgegen kommt, wird doch der Staat
erst recht nicht zurückstehen wollen, wo es sich um die
Sicherung des Zustandekommens einer so gemeinnützlichen
Anlage handelt, welche einer bisher so stiefmütterlich
bedachten Preußischen Stadt und den umliegenden
landwirtschaftlichen Betrieben aufzuhelfen und sie
konkurrenzfähig machen soll" 17).
Direkte Tarife konnten nur genehmigt werden, wenn die
Anlage dem Gemeinwohl dienlich war. Diese Auffassung
vertrat der Regierungspräsident: „Im vorliegendem Falle
handelt es sich nicht um die Wettbewerbsfähigkeit
einzelner Gewerbe und
15) ebenda
16) ebenda, Schreiben an Regierungspräsident am 9. 9.
1898
17) ebenda
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Fabriken sondern um die sämmtlicher Kaufleute,
Gewerbetreibenden und Fabrikanten der Stadt Ratzeburg
gegenüber denen in solchen Nachbarorten, welche wie
Mölln durch ihre günstige Lage an Eisenbahnen und
Wasserstraßen vor Ratzeburg erheblich bevorzugt sind"
18). Vom Reichspostamt erwartete man sich ebenfalls
Unterstützung in dieser Frage, da durch die Kleinbahn
der „Omnibus" von der Stadt zum Bahnhof fortfallen
könnte. Doch die Erwartungen erfüllten sich nicht. Auch
die Eisenbahndirektion in Altona sah sich nicht in der
Lage, für den Güterverkehr direkte Tarife zu genehmigen,
sondern nur für den Personen- und Gepäckverkehr.
Vier Jahre dauerten die Verhandlungen inzwischen, die
Kosten waren bereits auf 480000 Mark ohne Grund und
Boden gestiegen. Dadurch war die Stadt gezwungen, ihren
eigenen Anteil von 45000 Mark auf 60000 Mark zu erhöhen.
Der Kreis Herzogtum Lauenburg hatte sich am Kanalbau mit
600000 Mark beteiligt, jetzt sollte er sich auch
finanziell an der Kleinbahn beteiligen, da die Stadt
keine höhere Summe aufbringen konnte. Sie hatte eine
Schuldenlast von 325000Mark mit jährlich 19000Mark zu
verzinsen und zu tilgen, außerdem hatte sie für den
Kasernenbau eine Anleihe von 230000 Mark und für das
Seminar 50000 M aufnehmen müssen. Die Gewerbetreibenden
hatten beim Konkurs des Spar- und Vorschußvereins 180000
Mark verloren, so daß von ihnen auch keine weitere
Unterstützung zu erwarten war. Wohlhabende Leute wohnten
nicht in Ratzeburg. Diese zogen nach St. Georgsberg oder
auf den Domhof, dort hatten sie günstigere
Steuerbedingungen. So erbat die Stadt vom Kreis
ebenfalls 60000 Mark, der Staat würde dann 120000 Mark
bewilligen und die restlichen 240000 Mark sollte der
Unternehmer tragen. Das Anlagekapital sollte sich
jährlich mit 2,3% verzinsen, der Zinsverlust von 1,2%
gegenüber den normalen Zinssätzen schien tragbar. Bei
der Rentabilitätsberechnung ging man davon aus, daß
täglich 11 Zugpaare zwischen Ratzeburg Stadt und Bahnhof
verkehren sollten.
Danach ergab sich:
A |
|
Ausgaben |
|
|
I. |
Selbstkosten der Züge |
|
|
a) |
Lokomotivpersonal |
5495,-
Mark |
|
b) |
Bahnpersonal |
2580,-
Mark |
|
c) |
sächl.
Kosten (Unterhaltungskosten) |
6460,- Mark |
|
d) |
Bahnunterhaltung (Personalkosten) |
1150,-
Mark |
|
e) |
Gebäudeunterhaltung |
1282,-
Mark |
|
|
|
|
|
II. |
Kosten
der Station, Personal und Büro |
5700,- Mark |
|
|
|
22
667,- Mark |
B |
|
Einnahmen
Zusammengestellt nach den Jahresberichten
der Lübeck-Büchener Eisenbahngesellschaft
für den Bahnhof Ratzeburg. |
|
|
I. |
Personenverkehr |
27264,- Mark |
|
II. |
Güterverkehr |
10
700,- Mark |
|
|
|
37
964,- Mark |
|
|
|
|
C |
|
Überschuß |
14
490,- Mark |
|
|
|
|
18) LAS 309/10289, Schreiben des Regierungspräsidenten
an Eisenbahndirektion Altona, 22. 9. 1898
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68
|
|
entsprechend 3% des Anlagekapitals, davon
werden in den Erneuerungs-fonds jährlich
3490 Mark auf 30 Jahre eingezahlt, bleibt
ein absoluter Überschuß von jährlich 11 000
Mark, entspricht einer Verzinsung von 2,3%
19). |
|
|
|
|
|
Diese Berechnung war sehr optimistisch, an den späteren
tatsächlichen Betriebsergebnissen wird sich zeigen, in
wieweit die Kalkulation von einem Wunschdenken begleitet
war.
Der Kreistag stimmte der Beteiligung von 60000 Mark zu,
doch im April 1899, - inzwischen hatte sich die Stadt
für die Firma Lenz & Co. entschieden, - beliefen sich
die Kosten bereits auf 580000 Mark. Lenz & Co. wollte
der Stadt ein Darlehen über 230000 Mark geben, dann
würde der Staat auch 290000 Mark bewilligen. Für das
Darlehen verlangte die Firma aber eine Zinsgarantie von
2 1/2% oder jährlich 5750 Mark. Dieser Betrag war aber
nur aufzubringen, wenn die Steuer erhöht würden. Dabei
hatte Ratzeburg ohnehin schon einen sehr hohen
Steuersatz mit 180% Staatseinkommensteuer, 200% Grund-
und Gebäudesteuer, 200% Gewerbesteuer und 33 1/3% der
Staatseinkommensteuer als Kirchensteuer. Das waren
insgesamt 11-12% des Einkommens der Ratzeburger.
„Außerdem droht der Stadt ein neuer Kasernenbau aus
eigenen Mitteln im Betrage von 800000 Mark" 20). Wenn
Ratzeburg die Zinsgarantie aufbringen müßte, wäre eine
Steuererhöhung von 20% unumgänglich.
Deshalb wandte sich der Senator Spehr, der die
Verhandlungen städtischerseits im wesentlichen geführt
hatte, an die Lübeck-Büchener-Eisenbahn-Gesellschaft mit
der Bitte um Beteiligung. Aus dieser Bahnverbindung
würden sich auch für die LBE Vorteile ergeben. „Die
Stadt Ratzeburg strebt an, sobald die Linie bis
Ratzeburg Stadt gesichert ist, diese Kleinbahn weiter
nach Mecklenburg zu führen ... Die Rentabilität wird in
den ersten Jahren auf schwachen Füßen stehen, sich aber
allmählich heben. Ich möchte bitten, Ratzeburg auf 10
Jahre mit jährlich 2000 Mark beizuspringen" 21). Diese
Bitte um Beteiligung war durchaus nicht abwegig,
sicherlich würde das Verkehrsaufkommen der LBE sich
durch die Ratzeburger Kleinbahn vermehren. Außerdem
hatte die LBE schon früher Interesse an der Bahn
gezeigt, als sie direkten Tarifen mit der Kleinbahn
zustimmte. überraschend schnell antwortete die LBE, sie
war bereit, „der Stadt Ratzeburg für eine Reihe von
Jahren eine nennenswerte Beihilfe zur Deckung der von
ihr der Firma Lenz & Camp. zu gewährenden Zinszuschüsse
zufließen zu lassen ... 22). Die grundsätzliche
Bereitschaft war damit erklärt, eine feste Regelung
wollte die Direktion noch nicht treffen, da ihr die
Kalkulation und die Rentabilitätsberechnung noch zu vage
erschienen.
Die Finanzen waren einigermaßen geklärt, jetzt sollte
der Bahnbau vorangetrieben werden. Der erste Schritt
dazu war, daß die Städtischen Kollegien in ihrer Sitzung
am 1. Mai 1899 einstimmig das Angebot der Firma Lenz &
Co. annahmen und damit praktisch den Auftrag erteilten.
Zwei Tage später schrieb der Magistrat den offiziellen
Antrag für eine Staatsbeihilfe von 295000 Mark. Die vom
Regierungspräsidenten seinerzeit vorgeschlagene
Zahnradbahn konnte jetzt aufgegeben werden, da eine neue
Linienführung ausgearbeitet wurde, die geringere
Steigungen enthielt und eine Zahnradbahn überflüssig
machte. Außerdem war die neue Linie für die Fuhrleute
nicht so gefährlich, da sie nicht neben der Straße
verläuft. Firma Lenz & Co hatte sich
19) StA RZ 1 B 19, Schreiben des Magistrats an den
Kreisausschuß vom 3. 12. 1898.
20) ebenda, Schreiben des Senators Spehr an Geheimrat
Brecht von der Direktion der Lübeck-Büchener
Eisenbahn-Gesellschaft am 8. 4. 1899.
21) ebenda
22 ebenda, Schreiben Brechts an Spehr am 14. 4. 1899.
68
69
bereit erklärt für einen Pauschalbetrag von 590000 Mark
die Bahn zu bauen und 20 bis 25 Jahre zu betreiben. Die
Stadt hatte das Darlehensangebot von dem Unternehmen
angenommen und konnte somit zusammen mit dem Kreis die
Hälfte der Kosten, 295000 Mark, aufbringen. Da die Stadt
Ratzeburg den Eisenbahnbetrieb nach Ablauf der 25 Jahre
nicht alleine übernehmen konnte, sollte eine
Aktiengesellschaft gegründet werden, deren Mitglieder
die Kapitalgeber sein sollten.
Die Übernahme eines so großen Darlehens rief in der
Bevölkerung eine Mißstimmung hervor. Der Verein
gewerbetreibender Bürger Ratzeburgs beantragte am 6.
Juni 1899 beim Bezirksausschuß in Schleswig, der Stadt
die Genehmigung hierzu zu versagen. Zwar wären auch die
im Verein vertretenen Bürger für eine Bahnverbindung,
jedoch nicht unter diesen Bedingungen, da sie
Steuererhöhungen befürchten müßten. Zwei Monate später
bewilligte der Minister der öffentlichen Arbeiten die
Staatsbeihilfe in Höhe von 295000 Mark. Nun war
Ratzeburg in einer Zwickmühle, die Bahnverbindung wollte
es haben, darum hatte es schon Jahrzehnte gekämpft, auf
der anderen Seite sprach sich ein bedeutender Teil der
Einwohner gegen die Bahn aus, da sie zu hohe Kosten
verursachte.
Aus dieser Situation konnte man nur herauskommen, wenn
die Direktion der LBE sich definitiv für eine
beträchtliche Unterstützungssumme entscheiden würde. „Zu
unserem großen Bedauern hat sich auch ein Theil der
Bewohner Ratzeburgs aus finanziellen Gründen gegen den
Bau dieser kleinen Verbindungsbahn zwischen Bahnhof
Ratzeburg und Stadt ausgesprochen und ist bereits bei
dem Bezirksausschuß in Schleswig vorstellig geworden sie
halten die Betheiligung der Stadt für zu hoch, den
Vermögensverhältnissen der Stadt nicht entsprechend"
23). Daher bat der Magistrat um eine definitive Zusage,
der Stadt jährlich eine Beihilfe von 1 500 bis 2000 Mark
25 Jahre lang zu zahlen. Die Direktion erklärte sich
vorbehaltlich der Genehmigung durch die
Generalversammlung bereit, einen jährlichen Zuschuß von
1 500 Mark auf 25 Jahre zu zahlen, jedoch müßte der
Zuschuß aufhören, sobald Neuvorwerk nach Ratzeburg
eingemeindet würde, und die LBE in Ratzeburg Steuer
zahlen müßte. Da Lenz & Co. der Stadt für die ersten
Jahre eine Zinsgarantie über 4000 Mark gab, brauchte die
Stadt anfangs aus Eigenmitteln nur 1875 Mark
aufzubringen. Das müßte eine erträgliche Belastung auch
für Ratzeburg sein.
Die eine Frage war geklärt, schon kam es zu einem neuen
Eklat. Zur Bearbeitung des Bahnprojektes sollte eine
Kommission gewählt werden, und zwar zu je einem Drittel
aus der Bürgerschaft, aus den Reihen der
Stadtverordneten und aus dem Magistrat. Gewählt wurden
der Kaufmann E. Rautenberg, Gaswerkbesitzer E. Palmer
und Redakteur B. Raute aus der Bürgerschaft, die
Stadtverordneten Hinkel, Friedrichsen und Stricker, aus
dem Magistrat die Senatoren Dierking und Ferdinand sowie
der Bürgermeister. Dieses Wahlergebnis war ein Affront
gegen den Senator Spehr, der bisher die ganze Arbeit für
das Bahnprojekt erledigt hatte und sich dadurch große
Verdienste erwarb, dafür aber nicht gewählt wurde. Spehr
verließ nach Bekanntgabe des Ergebnisses erregt den Saal
und kündigte an, für den Bahnbau keinen Finger mehr zu
krümmen. Das Verhalten der städtischen Kollegien kann
nur als äußerst ungeschickt beurteilt werden, denn Spehr
war der Fachmann in dieser Frage; er hatte durch
persönliche Beziehungen, so z. B. zum Geheimrat Brecht,
sehr viel für das Unternehmen getan.
Am 14. 12. 1899 teilte Spehr dem Bürgermeister seinen
Entschluß schriftlich mit, an dem Eisenbahnprojekt nicht
länger mitzuarbeiten. Die Unterlagen wollte er erst nach
23) ebenda, Schreiben des Magistrats an Direktion der
LBE am 30. 8. 1899.
69
70
Erstattung seiner Auslagen übergeben. „Ich muß hierzu
bemerken, daß die gesammten Vorarbeiten und erzielten
Resultate durch meine Arbeit und durch meine Gelder
beschafft worden sind" 24). Insgesamt hatte er 2500 Mark
verauslagt, das war eine beträchtliche Summe, Spehr aber
auch kein armer Mann, ihm gehörte eine mecklenburgische
Bankfiliale in Ratzeburg.
Fast ein 3/4 Jahr war seit der Auftragserteilung an Lenz
vergangen, der Staatszuschuß ebenfalls genehmigt, doch
von einem wesentlichen Fortschritt war immer noch nichts
zu erkennen. Allmählich wurden die Ratzeburger
ungeduldig. Das drückte sich z. B. in der Resolution des
Neuen Bürgervereins vom 15. 11. 1900 aus: Er forderte,
„mit allen Mitteln und größter Beschleunigung auf das
Zustandekommen des Projektes einer Verbindungsbahn
zwischen Bahnhof und Stadt einzuwirken, indem die fast
ausschließlich aus Gewerbetreibenden und Kaufleuten
bestehende Versammlung von dem Werth und Nutzen dieser
Bahn überzeugt ist und sie ein Interesse der
wirthschaftlichen Hebung unserer Stadt für absolut
nothwendig hält" 25). Diese Resolution wurde mit 135
Unterschriften auf den Weg geschickt.
Das war die eine Seite; die Opposition gegen die Bahn
war aber noch nicht verschwunden. Der Verein Vorstädter
Bürger machte sich zum Sprecher gegen die Linie. Er
versuchte beim Regierungspräsidenten weiterhin ein
Verbot gegen das Darlehen zu erwirken. „Im Princip sind
wir nicht gegen den Bahnbau, nur deshalb erheben wir
gegen denselben Protest, weil die Vortheile des
projectirten Unternehmens die Nachtheile durch ganz
außergewöhnlich hohe Belastung des städtischen Budgets
usw. nicht aufheben . . . da uns das ganze Projekt
durchaus unrentabel erscheint" 26). Der große Teil der
Bürger hätte keine Vortheile, im Gegenteil, ihn würden
Steuererhöhungen belasten.
Außerdem wäre neue Industrie und mehr Handel auch nicht
durch die Bahnverbindung zu erwarten. „Die Voraussetzung
für Anlage größerer industrieller Etablissements, welche
die Rentabilität der Bahn heben könnten, sind auch in
der näheren Umgebung Ratzeburgs nicht vorhanden, weil
das ganze Gelände um die Stadt herum unseres Erachtens
sich nicht eignet" 27).
Dieser Auffassung muß energisch widersprochen werden. Um
1900 und auch noch danach bestanden ausreichend
Möglichkeiten für Industrieansiedlungen. Die
entscheidende Frage war: Wollte man neue Industrie,
regeren Handel und damit auch viel frischen Wind in
Ratzeburg ernsthaft? Die von der Stadt betriebene
Politik beantwortet diese Frage jedenfalls nicht
positiv.
Unrentabel erschien dem Verein die Bahn in ihrer ganzen
Konzeption. Die Stückgutsendungen würden keinen
niedrigeren Frachtpreis erhalten, nur ganze Waggons
wären billiger. Da machte sich aber die Konkurrenz von
Schmilau, Hollenbek und Zarrentin so stark bemerkbar,
daß diese Güter ohnehin nicht über die Ratzeburger
Kleinbahn verfrachtet würden. Die östlichen Gemeinden
orientieren sich eher nach Mecklenburg, wo seit 1896 die
Bahnlinie Rehna-Gadebusch-Schwerin in Betrieb war. Der
Fahrpreis für Personen wäre ebenfalls nicht günstiger,
außerdem bediente die Kleinbahn nicht jeden Zug, der
bislang verkehrende Omnibus täte dies. Die Einnahmen aus
dem Güter- und Personenverkehr wären viel zu hoch
angesetzt, die Daten von 1895
24) ebenda
25) LAS 309/10289
26) ebenda, Verein Vorstädter Bürger an Magistrat am 2.
3. 1900
27) ebenda
70
71
könnten heute nicht mehr herangezogen werden. Die Bahn
könnte sich allenfalls selbst tragen, ein Gewinn stünde
nicht zu erwarten, folglich wäre die Bahn für Ratzeburg
kaum von Interesse. „Die städtischen Kollegien bitten
wir dringend, die jetzt vorliegenden Verträge mit der
Firma Lenz & Co. nicht zu genehmigen, nur so ist eine
Rettung vor unabsehbarem Schaden möglich" 28). Bevor in
der bisherigen Form weiter verhandelt würde, sollte
geklärt werden, ob eine Bahn nicht auch ohne Belastung
Ratzeburgs praktikabel wäre und wie teuer eine
elektrische Verbindungsbahn werden würde.
Ganz ohne eigene Beteiligung ließe sich eine Bahn wohl
nicht ausführen. Staatlicherseits wurde dieser
Verbindung der Charakter einer Nebenbahn schon sehr bald
abgesprochen, und von Privatunternehmern ein so starkes
finanzielles Engagement zu fordern, war so gut wie
unmöglich, denn dazu war die Profitrate einfach zu
klein. Um 1900 kamen die elektrischen Verbindungsbahnen
auf und in Mode, doch ein solches Projekt war für
Ratzeburger Verhältnisse denkbar ungünstig, da durch die
Elektrifizierung der Bahn die angestrebte Weiterführung
an die mecklenburgische Grenze, die wahrscheinlich auch
eine Rolle bei der Gewährung des Zuschusses der LBE
gespielt hatte, behindert worden wäre. In der Sitzung
der Ratzeburger Eisenbahnkommission wurde die bislang
erwünschte Weiterführung nach Osten auf einmal als gar
nicht unbedingt erforderlich angesehen. „Die Kommission
ist in ihrer Mehrheit vielmehr der Ansicht, daß schon
das vorliegende Projekt eine wesentliche Verbesserung
der Verkehrsverhältnisse Ratzeburgs bedeutet" 29). Eine
Verkehrsverbesserung wäre wohl erreicht, aber der
Aufwand technisch sowohl wie finanziell stünde in keiner
Beziehung zum Ergebnis. Überhaupt läßt sich aus dieser
Sitzung eine pessimistische Haltung erkennen.
Eine Rentabilitätsberechnung war der Kommission nicht
mehr möglich, man rechnete sogar schon mit dem
ungünstigsten Fall, hoffte aber weiterhin auf einen
Überschuß. Im ungünstigsten hätte die Stadt bei
sofortigem Baubeginn von 1901 bis 1925 jährlich 4750
Mark aufzubringen, von 1926 bis 1944 jährlich 10575 M,
1945 wäre die Bahn also bezahlt mit einem Kostenaufwand
von fast 400000 Mark, ohne eine Zinserhöhung zu
berücksichtigen. In der Kommission war man sich darüber
einig, daß Fabrikanlagen auch in einem Ratzeburg mit
guten Verkehrsverbindungen sich nicht niederlassen
würden. Eine Fabrikansiedlung wäre auch gar nicht
erwünscht. Hier wurde expressis verbis bestätigt, daß
Unternehmungen, die der Stadt Geld einbrächten und die
allein für eine gesunde Finanzstruktur sorgen könnten,
nicht erwünscht waren. Die Beweggründe für diese Haltung
bleiben höchst unverständlich.
Nach dem massiven Auftreten der beiden Vereine gegen die
Ausführung der bisherigen Planung änderte sich auch die
Haltung des Landrats. Nach den ersten Stellungsnahmen,
in denen er die Argumente der Stadt uneingeschränkt,
beinahe kritiklos unterstützte, wurde jetzt eine
dezidierte Haltung erkennbar. Er stimmte zu, daß die
beiden Vereine die Ansicht eines großen Teils der
Bevölkerung vertreten. ,Tatsache ist meines Erachtens,
daß die Schönheit der Stadt sehr unter der Bahn leiden
wird, und daß der Vortheil, welchen sie vielleicht
bringt, zwar für einige größere Geschäfte, nicht aber
für die Gesamtheit ein bedeutender sein wird" 30). Die
Rentabilität wurde also schon reichlich pessimistisch
beurteilt. Vielleicht brächte die Bahn Vorteile, von der
Bestimmtheit ist nichts mehr zu spüren. Vor allem aber:
Die Bahn
28) ebenda
29) StA RZ 1 B 19, Kommissionssitzung am 27. 3. 1900
30) LAS 309/10290, Landrat an Regierungspräsident am 30.
5. 1900
71
72
war in ihrer bisherigen Anlage nicht für das Wohl aller
konzipiert, nur die größeren Geschäfte würden
profitieren. Außerdem gäbe es kaum Güter, die aus
Ratzeburg „exportiert" würden, die einzige Ausnahme
bildeten etwas Bier und verarbeitetes Holz. Demnach
würde „nur die Brauerei von der Bahnlinie Vorteile
haben, für die sonstigen, namentlich die kleineren
Gewerbetreibenden ist es ziemlich gleichgültig, ob sie
die Waren 2 Kilometer durch den Spediteur holen lassen,
oder ob sie mit der Bahn an das südlichste Ende der
Stadt gehen ... Billiger wird der Transport nicht ...
Günstiger würde sich die Angelegenheit gestalten, wenn
der Weiterbau nach Mecklenburg gesichert wäre, dann
würde Ratzeburg dem Verkehr erschlossen sein, dann wäre
auch die Wahl der Linie und die Lage des Bahnhofs
gerechtfertigt".
Für eine in Ratzeburg endende Bahn läge der Bahnhof sehr
ungünstig. Er sollte südlich des heutigen Theaterplatzes
erbaut werden, man mußte also durch die ganze Stadt
fahren, kam man von auswärts. Deshalb sind viele „der
Ansicht, daß eine elektrische Bahn, die die Stadt
durchschneidet, bei weitem günstiger wäre, eine
derartige Bahn würde dem Personenverkehr viel besser
dienen können, wie die jetzt projektirte Bahn, ebenso
könnten mit ihr Güter aller Art befördert werden, die
dann mitten in der Stadt abgeladen werden könnten" 31).
Betrachtete man nur Ratzeburg, so wäre eine elektrische
Bahn vorteilhafter, doch Ratzeburg müßte sich selbst für
die eine oder andere Art entscheiden. Den Gedanken einer
elektrischen Bahn brachte vorher noch einmal die
Eisenbahndirektion Altona in die Debatte. Eine solche
Bahn würde sehr viel billiger werden, doch der Magistrat
widersprach, da die bewilligten Gelder nur für die
geplante Kleinbahn bereitgestellt worden wären. Außerdem
könnte eine solche Bahn nicht nach Osten weitergeführt
werden und keine Güter transportieren. Insgesamt gesehen
muß man den Plan einer elektrischen Bahn verwerfen, eine
solche Anlage würde allein schon aus technischen Gründen
nicht den Ratzeburger Gegebenheiten um 1900 entsprechen.
In der Argumentation des Landrats taucht ein neuer
bislang überhaupt noch nicht berücksichtigter
Gesichtspunkt auf, der für die heutige Zeit sehr aktuell
ist: Die Schönheit Ratzeburgs würde durch die Bahn
beschnitten werden. Gemeint waren damit die zu
erwartenden Anschüttungen an den Ufern. Die Uferlinie
würde dadurch ihren Reiz verlieren, die mehr oder
weniger natürlichen Buchten müßten verschwinden, das
Ufer würde begradigt werden. Damit ginge die
Natürlichkeit der Landschaft, auf die man besonders
stolz war, verloren.
Im Jahre 1900 häuften sich die Angebote für eine
Verbindungsbahn, was nicht zuletzt auf die von mehreren
Seiten ins Spiel gebrachte Idee einer elektrischen Bahn
zurückzuführen ist. Am 22. 6. 1900 bot sich die
Norddeutsche Eisenbahn-Bau- und Betriebsgesellschaft an,
auf eigene Kosten die Bahn zu bauen. Die Gesellschaft
war bereits beim Regierungspräsidenten vorstellig
geworden und bat nun um die Planungsunterlagen von der
Stadt. Die Gesellschaft wollte allerdings keine
Eisenbahn, sondern eine Pferdebahn bauen. Der Landrat
begrüßte die Initiative der Gesellschaft und hoffte, auf
diesem Wege endlich weiter zu kommen. In dem von der
Gesellschaft vorgeschlagenen Projekt sollte die
bestehende Landstraße zum Bahnhof benutzt werden,
allerdings warnte der Landrat vor einer Pferdebahn, da
sie kaum durchführbar erschien; auch bei der Firma wäre
Vorsicht geboten. Gleichzeitig kritisierte er die
Stadtvertretung, sie wäre sich nicht über die
verschiedenen Möglichkeiten einer solchen Anlage klar
geworden.
31) ebenda
72
73
Als der Gesellschaft bewußt geworden war, daß eine
Pferdebahn von allen Seiten abgelehnt wurde und für die
hiesigen Verhältnisse kaum praktikabel war, bot sie sich
im April 1901 nochmals an, auf eigene Kosten eine
Kleinbahn zu bauen. Nach ihren Berechnungen würde der
Bahnbau 100000 Mark kosten, bereits im Mai 1895 hätte
die Gesellschaft für dieses Projekt Schienen gekauft.
Dieses Angebot wich so stark von der bisherigen Planung
ab, daß sich die Regierung in Schleswig veranlaßt sah,
über die Gesellschaft Auskünfte einzuholen. Eingetragen
ins Handelsregister war die Gesellschaft schon,
allerdings nur mit einem Grundvermögen von 500 Mark.
Diesem Einwand wußte die Gesellschaft schnell zu
begegnen, indem sie sich auf ihre Verbindung mit dem
Bankhaus C. Ch. Lesenberg in Rostock, das die Kleinbahn
finanzieren wollte, berief. Nach Auskunft der
Polizeiverwaltung Rostock war aber dieses Bankhaus
völlig unbedeutend und verfügte über kein nennenswertes
Vermögen. Damit war der Traum, auf ganz billige Art und
Weise zu einer Bahnverbindung zu kommen, für Ratzeburg
ausgeträumt. Die Diskussion hierüber war in der
Lokalpresse noch nicht beendet, eine Seite wie die
andere warfen sich gegenseitig Unkenntnis vor.
Dem „Neuen
Bürgerverein" dauerte das ewige Hin und Her, ob
normalspurige Kleinbahn oder schmalspurige Straßenbahn,
zu lange und er forderte in einer Resolution am 11. 12.
1900 den Magistrat auf, den Bahnbau mit allen Mitteln
voranzutreiben, da bislang keine großen Fortschritte
erkennbar wären. Jetzt schien auch das Projekt
voranzukommen: am 23. 2. 1901 wandte sich die Firma Lenz
& Co., bei deren Angebot man doch geblieben war, an den
Regierungspräsidenten, „bei dem Herrn Minister der
öffentlichen Arbeiten den Antrag auf Freigabe der als
Fortsetzung der vorgedachten Bahn erschienenden
normalspurigen Kleinbahnverbindungen von Ratzeburg über
Ziethen, Mustin nach Gr. Thurow hoch geneigtest stellen
zu wollen. Die Stadt Ratzeburg nimmt den Standpunkt ein,
daß es ihrem Interesse im höchsten Grade gefährlich
werden könnte, wenn die Gegend von Gr. Thurow durch
Bahnverbindung nach anderen Richtungen hin veranlaßt
werden könnte, den bisherigen Verkehr mit Ratzeburg nach
und nach eingehen zu lassen . . . und es liegt im
Interesse auch des gemeinsamen Unternehmens zwischen
Ratzeburg-Bahnhof und Stadt, daß dasselbe durch eine
längere Fortsetzung ertragreicher gemacht werde, denn es
wird möglich sein, mit demselben Betriebspersonal und
Material, welches für die Strecke zwischen Bahnhof und
Stadt Ratzeburg eingestellt werden muß, auch
gleichzeitig die Fortsetzung bis Thurow zu betreiben,
ohne daß daraus wesentliche Mehrkosten entstehen" 32).
Damit wurde absolut klargestellt, daß die Kleinbahn nach
Osten weitergeführt werden sollte. Dieses Unternehmen
scheint auch allein den großen Aufwand zu rechtfertigen,
denn eine Kleinbahn, die in Ratzeburg enden würde,
könnte wohl kaum zur Belebung der wirtschaftlichen Lage
beitragen. Lenz & Co. war der Ansicht, daß die
Verlängerung der Bahn bis Thurow auch vollständig
ausreichen würde. Eine Verbindung mit Gadebusch war zur
Zeit wegen des Widerstandes der
Mecklenburg-Strelitzschen Regierung nicht zu erreichen.
Wenig später stellte auch die Stadt den Antrag, die
Fortführung, die einem allgemeinen Wunsch der
Bevölkerung ansprach, genehmigen zu wollen. Die Strecke
wäre bis Gadebusch geplant, doch soll erst bis Thurow
gebaut werden. Der Landrat stand dem Projekt sehr
positiv gegenüber und stimmte im wesentlichen zu. „Der
Plan des Baues der Linie Ratzeburg-Thurow sowie
Thurow-Schönberg und Thurow-Gadebusch ist schon alt und
hat nur deshalb jetzt so plötzlich Gestalt angenommen,
weil von Interessenten der Stadt Mölln lebhaft für den
Bau einer Bahn Hollenbek-Thurow-Horst
32) StA RZ 1 B 19
73
74
agitiert wird" 33). Immer wieder war die Konkurrenz mit
Mölln zu spüren. Käme die Verbindung von Hollenbek an
die mecklenburgische Grenze zustande, dann wäre
Ratzeburg vollends vom Verkehr abgeschnitten. Eine
solche Bahn würde Ratzeburg auch noch des letzten
Handels und Verkehrs berauben.
Das Bahnprojekt war nun in Gang gekommen, im April
verhandelte Spehr mit der Berliner Handelsgesellschaft
über den Kredit in Höhe von 235000 Mark, mit dem sich
Ratzeburg an dem Bahnprojekt beteiligen sollte und
mußte. Dieser Kredit sollte durch eine bei der
Invaliditäts- und Altersversicherungs-Anstalt der
Provinz Schleswig-Holstein aufzunehmende Anleihe
innerhalb von 2 Jahren getilgt werden. Sollte die
Anleihe nicht zustande kommen, so war der Kredit mit 4
1/2% zu verzinsen und mit 1% zu tilgen. Die
Versicherungsanstalt stimmte am 17. 5. 1901 der Anleihe
zu, und da die Stadt dort nur 4% Zinsen zu zahlen hatte,
stimmte auch sie dem Angebot der Berliner Anstalt zu.
Die Finanzierung der Bahn war nun also gesichert.
Schließlich konnte am 19. 4. / 10. 5. 1901 der Vertrag
über den Bahnbau und Betrieb zwischen der Firma Lenz &
Co., Berlin und der Stadt Ratzeburg geschlossen werden.
Darin verpflichtete sich die Gesellschaft Lenz & Co. für
die Dauer ihrer Betriebsführung dafür aufzukommen, daß
eine Dividende erwirtschaftet wird, die mindestens der
Hälfte der zu zahlenden Zinsen für die Anleihe
gleichkommt. Die Gesellschaft behielt sich auch das
Recht vor, die Betriebführung an eine andere mit
genügender Sicherheit ausgestattete Gesellschaft zu
übertragen. Die Generalversammlung der zu bildenden
Aktiengesellschaft mußte aber dem zustimmen.
Die Weiterführung der Bahn nach Thurow wurde vom
Minister durch Schreiben des Landrats vom 16. 9. 1901
genehmigt, allerdings müßte die Strecke immer auf
preußischem Gebiet führen. Wenn ein Anschluß mit
mecklenburgischen Gemeinden erfolgen soll, müßte erneut
verhandelt werden. Auch die verlängerte Bahn könnte nur
als Kleinbahn betrachtet werden.
Noch immer nicht einig war man sich über die
Linienführung der Bahn. Gegen die bisherige opponierte
der Landrat; um der Öffentlichkeit klar zu machen, daß
die bisher vorgeschlagene Linie ungünstig wäre, ließ er
die Strecke mit Pfählen ausstecken. „Erst hierdurch
wurde der Allgemeinheit klar, welche in schönheitlicher
Beziehung geradezu verheerende Wirkung der längs des
Lüneburger Dammes geplante Bahndamm ausüben würde, und
es erhob sich ein so starker Sturm der Entrüstung, auch
in dem Kreise alter Beführworter des Projekts, daß sich
ohne Weiteres die Nothwendigkeit einer anderen
Linienführung ergab" 34).
Das Argument der Verunstaltung Ratzeburgs durch die Bahn
stand wieder im Vordergrund. So wollte der Landrat den
Bahndamm am Südende des großen Ratzeburger Sees
vermeiden und dafür den Ratzeburger Stadtbahnhof etwa in
der Gegend des „Alten Zolls" angelegt wissen, also am
Fuße der Gemeinde St. Georgsberg. Die natürliche
Uferlandschaft wäre erhalten geblieben, große
Anschüttungen wären ausgeblieben, doch der Bahnhof läge
wieder einige hundert Meter außerhalb der Stadt. Aber
auch der Landrat war jetzt für eine Beschleunigung der
ganzen Angelegenheit, um endlich Klarheit über die
Rentabilitätsfrage zu erhalten. Im März 1902 wurde dann
in öffentlicher Anhörung über die Linie verhandelt.
Wesentliche Einwendungen von seiten der Anlieger wurden
nicht gemacht, so daß jetzt die Linie festgelegt (vgl.
Plan) und die Genehmigungsurkunde unterzeichnet werden
konnte. Dem Bau stand nun nichts mehr im Wege. Zur
gleichen Zeit fand die Gründungsversammlung der Klein-
33) LAS 309/10290, Landrat an Regierungspräsident am 30.
3. 1901
34) LAS 309/10290, Landrat an Regierungspräsident am 2.
11. 1901
74
75
bahn Aktiengesellschaft statt. Am 26. 3. 1902 wurden in
den Aufsichtsrat Regierungsassessor Wittich aus
Schleswig, Bau- und Betriebsinspektor Kaufmann aus
Hamburg, Landrat von Bülow, Bürgermeister Tronnier und
Kreisdeputierter Wentorp, in den Vorstand Spehr als
Vorsitzender, Brauereidirektor H. Rautenberg als sein
Stellvertreter und der Senator Ferdinand gewählt. Spehr
hatte inzwischen seinen Groll wegen der Nichtbeachtung
bei der Eisenbahnkommissionswahl überwunden und
arbeitete weiter mit.

Das Eisenbahnnetz um Ratzeburg
Am 8. 12. 1902 wurde der Gesellschaftsvertrag
verabschiedet. Aktionäre waren:
1.. |
|
der
preußische Staat mit |
295000,- Mark |
2. |
|
die
Stadt Ratzeburg mit |
233000,- Mark |
3. |
|
der
Kreis Herzogtum Lauenburg mit |
60000,- Mark |
4. |
|
Senator Spehr mit |
1000,-
Mark |
5. |
|
Reg.
Baumeister a. D. Frank,
Altona, mit |
1000,- Mark |
|
|
|
590
000,- Mark |
|
|
|
|
4. Der Bahnbau
Die erste Nachricht vom Baubeginn erfahren wir aus der
Zeitung: „Der Bau unserer Stadtbahn hat begonnen. Das
Fuchsholz wird fast in seiner ganzen Ausdehnung bereits
von der Feldbahn, auf der die Erdmassen befördert werden
durchschnitten und an dem Lauf derselben kann man schon
jetzt die Linienführung der späteren Bahn erkennen. Hier
und dort finden sich im Gehölz tiefe Grubenhölzer, von
den Bodenuntersuchungen herrührend. Beim Austritt aus
dem Walde kreuzt die Bahn bei der Eggert'schen
Baumschule die Lübecker Chaussee, um dann immer hart am
Seeufer entlang laufend, zur Stadt zu führen. Auch hier,
wo die Holzbestände bereits vor län-
75
76
gerer Zeit gefällt sind, ist die Bahn ausgesteckt und
Eisenbahnschienen und Schwellen liegen zum Bau bereit.
Beim Chausseeübergang erheben sich bereits
Lagerschuppen, Wellblechbaracken und Kantine, auch ist
hier der Lagerplatz für allerlei Arbeitsgerät, das noch
täglich mit der Eisenbahn eintrifft. Zwei kleine
Arbeitslokomotiven und zahlreiche Kippwagen wurden in
den letzten Tagen zur Arbeitsstelle geschafft, auf der
bereits rund 100 Arbeiter beschäftigt werden" 35). Das
deutlichste Zeichen für den Fortschritt war das ständige
Anwachsen des Bahndamms parallel zum Lüneburger Damm. An
den Wochenenden wurde die Großbaustelle zu einer
Besuchsattraktion.
Bemerkenswert war der große Einschnitt im Fuchswald, wo
die Sohle an der tiefsten Stelle knapp 17m erreichte.
Dieser Einschnitt war fast 800 m lang, und die Arbeiten
daran sehr mühsam, da das Gelände auf dem St. Georgsberger Abhang sehr schweren Boden aufweist, Lehm,
blauen Ton und reinen Kalk. Gleichfalls sehr schwierig
erwies sich die Dammschüttung, die sofort nach dem
Überqueren der Lübecker Straße einsetzen mußte.
Stellenweise mußten 13 m aufgeschüttet werden, was um so
schwieriger war, als der Damm sich an sehr steile Hänge
anlehnen mußte. Zur Entwässerung

Foto: Kreismuseum Ratzeburg
Klicken ins Bild vergrößert die Darstellung!
des Abhanges
wurden bis zu 40 m lange Steinrinnen eingebaut, um den
Damm vor einem Abrutschen zu sichern. Auf 600 m Länge
wurden 35000 cbm Boden aufgeschüttet. Der schwierigste
Abschnitt aber war die Dammschüttung am Nordufer des
Küchensees. „Unausgesetzt werden zur Anfüllung des
Seegrundes von 2 Arbeitszügen ungeheure Erdmassen, die
aus dem Durchstich des Fuchsholzes genommen werden, ins
Wasser geschafft" 36). Erschwert wurden die
Aufschüttungen noch durch verschiedene Damm-
35) Lauenburgische Zeitung (LZ) Nr. 41 vom 8. 4. 1902
36) LZ Nr. 86 v. 24. 7. 1902
76
77
brüche. Der Verkehr vom Fuchswald in die Gegend des
heutigen Kurparks war sehr lebhaft, deshalb wurden am
Lüneburger Damm zwei Schlagbäume errichtet, um
Unglücksfällen vorzubeugen. Der Damm sollte etwa 100 m
in den Küchensee hineinragen.
Am 26. 6. 1903 fand die landespolizeiliche Abnahme der
Bahn statt. In der Abnahme wurde vorgeschrieben, daß die
Bahn die Chausseeübergänge nur mit einer Geschwindigkeit
von 5 km pro Stunde kreuzen dürfte, 50 m vor und nach
dem Übergang müßte geläutet und gepfiffen werden.
Bemängelt wurde, daß bisher noch keine Wagen geliefert
wurden, nur erst 2 Lokomotiven, offene Güterwagen mit
Bänken dürften nicht als Personenwagen benutzt werden.
Dennoch konnte einen Tag später, nach 15monatiger
Bauzeit, der Betrieb eröffnet werden. Das erste Ziel war
damit erreicht, Ratzeburg wurde direkt an das
Eisenbahnnetz angeschlossen, jetzt konnte das Projekt
der Weiterführung der Bahn nach Osten stärker ins Auge
gefaßt werden.
5. Die Verlängerung nach Thurow
In der Aufsichtsratsitzung am 16. 3. 1903 wurde der
Vorstand der Kleinbahn AG beauftragt, die Weiterführung
der Bahn an die mecklenburgische Grenze voranzutreiben.
Dazu wandte man sich vorher schon an die großherzoglich
mecklenburgische Regierung mit der Bitte um
Unterstützung. Der Staatsminister Dewitz antwortete am
12.3.1903 einschränkend: „Für die geplante
Eisenbahnverbindung von Ratzeburg nach Thurow kann eine
finanzielle Beteiligung der diesseitigen Regierung durch
Übernahme von Aktien oder durch Gewährung einer
Zinsgarantie für Aktien nicht in Aussicht genommen
werden. Dagegen werden der Bewilligung freien Terrains,
soweit sich dasselbe in unbeschränktem Landesherrlichen
Eigentum befindet, und der Freigabe des Baues der Bahn
voraussichtlich Bedenken nicht entgegenstehen" 37).
Damit handelte die mecklenburgische Regierung ebenso wie
der Kreis Herzogtum Lauenburg anfangs: Zwar stellte sie
das Gelände zur Verfügung, aber finanziell wollte sie
sich nicht beteiligen. Das Einverständnis Mecklenburgs
war erforderlich, da in der projektierten Richtung
mecklenburgische Enklaven, besonders Ziethen, berührt
wurden.

Der Kleinbahndamm zur Vorstadt
Foto: Kreismuseum Ratzeburg
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Der
Kostenvoranschlag vom August 1903 sah für den Weiterbau
insgesamt 1130000 Mark vor, für eine Strecke von 15,5 km
Länge. Bereits ein halbes Jahr später bewillig-
37) LAS 309/10294
77
78
ten die städtischen Kollegien die Kapitalien für den
Weiterbau, und in der Aufsichtsratsitzung am 22. 4.1904
sprach man sich für einen beschleunigten Weiterbau nach
Thurow aus, zumal die Materialien dafür schon in
Ratzeburg lagerten. In dem Erläuterungsbericht zum Bau
der Bahn an die Landesgrenze wurde betont, daß schon
nach dem ersten Betriebsjahr der Ratzeburger Kleinbahn
die Fortführung nach Osten sich als „unbedingtes
Erfordernis" herausstellte" 38).
Das östliche Gebiet wurde so gut wie ausschließlich
agrarisch genutzt, so daß hier vor allem der
Frachtverkehr mit Getreide einerseits und Futtermitteln,
Dünger, Kohlen usw. andererseits zu berücksichtigen war.
Die Verkehrsermittlung für diese Linie ergab nach dem
Stand vom Jahre 1900 einen Einzugsbereich von 52
Gemeinden mit zusammen 8344 Einwohnern, 4 Bäckereien, 5
Mühlen, 4 Meiereien, 4 Schmieden und 2 Schlossereien.
Wegen der vielen kleinen Gemeinden (163 Einwohner im
Durchschnitt) sollten die Haltestellen so angelegt
werden, daß sie gleichzeitig mehrere Orte bedienen
konnten. Vorerst sollten täglich 3 Züge in jeder
Richtung genügen, da das Verkehrsbedürfnis nicht so groß
war.
An Betriebsmitteln sollten für diese Linie zunächst 2
dreiachsige Tenderlokomotiven, 1 Post- und Gepäckwagen,
2 Personenwagen II./III. Klasse, 2 Personenwagen III.
Klasse, 8 bedeckte Güterwagen, 6 offene Güterwagen mit
je 15 t Tragfähigkeit, 2 Langholzwagen, 2
Bahnmeisterwagen und 1 Eisenbahnfahrad in Dienst
gestellt werden. Die Kostenermittlung ergab eine Summe
von 1 1/4 Millionen Mark.
Die Rentabilitätsberechnung, vom Kleinbahnvorstand am
31. 5. 1904 aufgestellt, sah wieder sehr optimistisch
aus:
A |
|
Einnahmen |
|
|
1. |
Personenverkehr und Gepäckbeförderung |
36000,- Mark |
|
2. |
Güterverkehr |
47000,- Mark |
|
3. |
Viehverkehr |
6000,-
Mark |
|
4. |
Sonstiges |
3000,- Mark |
|
|
|
92000,- Mark |
|
|
|
|
B |
|
Ausgaben |
|
|
1. |
Beförderungs- und sonstige Kosten |
49000,- Mark |
|
|
|
|
C |
|
Überschuß |
43000,- Mark |
|
|
davon
1/l0 für Betriebsführungskosten |
4280,-
Mark |
|
|
Vorstandskosten |
2500,-
Mark |
|
|
Reservefonds |
180,-
Mark |
|
|
|
|
D |
|
Reingewinn |
35840,- Mark |
|
|
|
|
Das entspräche einer Verzinsung des Anlagekapitals von
jährlich 2,87%, also 0,57% mehr als bei der Linie von
Ratzeburg Bahnhof zur Stadt.
Die Eisenbahndirektion Altona sah die Voreinschätzung
als zu optimistisch. „Nach den von uns angestellten
Ermittlungen ist sowohl der Personen- als auch der
Güterverkehr erheblich überschätzt" 39). Die Behörde
beurteilte das Einzugsgebiet als wesentlich zu groß,
viel mehr Orte würden sich nach Schönberg und Rehna in
Mecklenburg
38) LAS 309/23472
39) ebenda, Bemerkungen zu der Berechnung der
mutmaßlichen Einnahmen und Ausgaben für die von
Ratzeburg Stadt nach Thurow-Landesgrenze geplante
Kleinbahn, aufgestellt von der königlichen
Eisenbahndirektion Altona im Dezember 1904.
78
79
orientieren, die beide an das Eisenbahnnetz
angeschlossen wären. Danach errechnete die Direktion aus
dem Personenverkehr nur eine Einnahme von 18600 Mark,
also nur die Hälfte des vom Kleinbahnvorstand
veranschlagten Betrages. Die absolute Umorientierung des
Güterverkehrs nach Westen, nach Ratzeburg, betrachtete
sie als reine Illusion, da die Chaussee nach Schönberg,
eine Hauptverkehrsstraße des Gebietes, in gutem Zustand
wäre. Bei der Schätzung des Güterverkehrs wurde das
Mißverhältnis zwischen Altona und Ratzeburger
Kalkulation noch deutlicher, nur21 300Mark würden aus
dem Güterverkehr zu erzielen sein, das waren noch
weniger als die Hälfte der Kleinbahnberechnung. Die
übrigen Einnahmen wurden in ihrer Höhe belassen. So
kamen insgesamt 48900 Mark auf der Habenseite zustande.
Die Ausgaben würden sich aber auf 53200 Mark belaufen,
so daß ein Fehlbetrag von 4300 Mark zu erwarten wäre.
Durch die direkte Verbindung bis zum Ratzeburger
Staatsbahnhof wären Mehreinnahmen von rund 5000 Mark zu
erhoffen, somit blieben zur Dotierung des Reservefonds
und zur Verzinsung 700 Mark übrig, während die
Kleinbahnverwaltung mit einem Reingewinn von 35840 Mark
rechnete, also rund dem 50fachen der Altonaer Schätzung.
Daraufhin sah sich der Vorstand der Kleinbahn AG
genötigt am 9. 3. 1905 eine umgearbeitete
Ertragsberechnung vorzulegen. Es muß dazu aber gesagt
werden, daß darin die Bedeutung Ratzeburgs überschätzt
wurde. Zwar wurde jetzt auch der Einzugsbereich
verkleinert, an den absoluten Zahlen änderte das kaum
etwas, immer noch errechnete man einen Reingewinn von
27500 Mark.
Über die Finanzierung wurde man sich noch nicht einig;
das hatte dann auch zur Folge, daß der Minister von der
Unterstützungswürdigkeit der Erweiterungsstrecke noch
nicht zu überzeugen war und eine Staatsbeihilfe
einstweilen aussetzte. Die Rentabilitätsrechnung sollte
erneut geprüft werden, auch die mecklenburgische
Beteiligung müßte nochmals überdacht werden, ebenso die
private Unterstützung und die Relation zwischen Kreis
und Stadt, sonst ginge man städtischerseits von
vornherein mit einer zu großen Belastung an das Projekt
40). Schon fünf Monate später konnte hinsichtlich der
privaten Beteiligung ein erheblicher Erfolg erzielt
werden. Zwar war wegen des zur Zeit in
Mecklenburg-Strelitz schwebenden Verfassungsstreites mit
einer Staatsbeteiligung nicht zu rechnen, dennoch hatten
inzwischen 23 Mecklenburger Interessenten 63000 Mark
Aktien gezeichnet, lauenburgische Privatleute hatten
ihre Beteiligung auf 50000 Mark erhöht 41). Kurz vor
Jahresende war dann auch der Staatszuschuß von 450000
Mark bewilligt, zur gleichen Zeit genehmigte der
Bezirksausschuß in Schleswig der Stadt Ratzeburg die
Aufnahme einer Anleihe für den Bahnbau bis nach Thurow.
Bedingung für den Staatszuschuß war die unentgeltliche
Abtretung des für die Strecke benötigten Grund und
Bodens. Jetzt benötigte man nur noch die Konzession, um
mit Mecklenburg-Strelitz zu verhandeln.
Spehr wollte die Angelegenheit so vorantreiben, daß noch
vor dem Winter 1906/07 der Damm durch den Küchensee
geschüttet werden konnte. Die Generalversammlung
beschloß am 6. 2. 1906, das Grundkapital um 96300 Mark
zu erhöhen, den Finanzierungsplan und die Linienführung
endgültig festzulegen. „Die Ratzeburger Kleinbahn wird
über Ziethen, Mustin, Thurow-Horst bis an die
Mecklenburgische Landesgrenze bei Klein Thurow nach dem
von dem Herrn Minister genehmigten Plänen und
Kostenanschlag ausgebaut" 42). Das Baukapital wurde mit
1150000 Mark festgesetzt, es sollte aufgebracht werden
durch Zuschüsse vom Staat mit 450000 Mark, vom Kreis
Herzogtum Lauenburg mit 75000 Mark von der Stadt
Ratzeburg mit 325000 Mark, von Pri-
40) ebenda, Schreiben des Ministers an Oberpräsident vom
29. 5. 1905
41) LAS 301/563, Bericht Spehrs an ED Altona vom 26. 10.
1905
42) LAS 309 23472
79
80
vatleuten kamen 113000 Mark, der Rest von 187000 Mark
wurde durch Hypotheken von der Stadt mit 100000 Mark und
der Firma Lenz & Co. mit 87000 aufgebracht. Eine weitere
Aufteilung sollte nicht erfolgen. Demnach war Ratzeburg
mit insgesamt 658000 Mark an dem Kleinbahnunternehmen
beteiligt, der Kreis Herzogtum Lauenburg nur mit 135000
Mark. In den erweiterten Aufsichtsrat wurden der Baurat
Frank aus Altona und Rittergutsbesitzer Müller aus
Dutzow hinzugewählt.
Im März 1906 schließlich wurde mit dem Bau begonnen. Es
wurde gleichzeitig an mehreren Stellen gearbeitet, wobei
die Dammschüttung und der große Einschnitt durch die
Schmilauer Chaussee die auffallendsten Punkte waren. Die
Schmilauer Chaussee wurde mit einem Graben von 13 m
Tiefe durchschnitten, dabei fielen 50000 cbm Boden an,
die sofort in den Küchensee zur Dammschüttung
transportiert wurden. Bei diesem Einschnitt trat eine
Vielzahl von Quellen zutage, die sich zu einem
beträchtlichen Gießbach vereinigten.
Der schwierigste Bauabschnitt war aber auch wieder die
Dammschüttung durch den Küchensee. Der Damm sollte rund
500 m lang werden, eine Kronenbreite von 4,20 m haben
und 2,25 m oberhalb des Wasserspiegels liegen, rechts
vom Damm sollte ein 1,5 m breiter Promenadenweg
ausgebaut werden. Nach 3 Monaten Bauzeit waren bereits
160 m geschüttet; das ging durch ein Schüttungsponton
vor sich, auf das die Bauzüge mit ihren 23 Loren fahren
konnten.
Eine Schilderung
dieser Arbeiten gibt uns der Redakteur B. Raute: „Hoch
interessant ist es mit anzusehen, wenn dann ein Wagen
nach dem andern seines Inhalts entleert wird und die
gewaltigen Erdmassen im See verschwinden, nichts weiter
hinterlassend, als ein Aufspritzen des Wassers, das sich
machtlos und kraftlos an den Wandungen der Schuten
bricht. Manchmal steigen auch rechts und links vom Damm
unter gurgelndem Geräusch weiße Blasen auf, die erkennen
lassen, wie weit der Boden seinen Weg auf dem Grund des
Sees genommen hat. Man kann hiernach die Sohlenbreite
des Dammes auf dem Seegrund bis zu 100 m schätzen, für
die spätere Haltbarkeit des Dammes natürlich nur von
Vorteil. Hiernach wird es auch erklärlich erscheinen,
wenn die hinter der jetzigen Lage des Schüttungspontons
befindliche Stelle des Dammes bei 16 m Wassertiefe und 5
m Moor nicht weniger als 30000 cbm Boden erforderte.
Acht Wochen lang, tagein, tagaus gingen die Erdmassen
eines Förderzuges nach dem anderen dort in die Tiefe,
bis es endlich gelang, den Damm zum Stehen zu bringen"
43).
Eine Zugladung mit 23 Wagen brachte 50 m3 Boden, man
benötigte also 600 Ladungen für diese einzige Stelle,
Dennoch rechnete man damit, noch im Jahre 1906 mit dem
Damm fertig zu werden, damit er sich im Winter setzen
und bewähren konnte. Insgesamt waren 21 Monate Bauzeit
vorgesehen, das bedeutete also Fertigstellung im
November 1907. Doch die Planung ging nicht auf, erst im
April 1907 hatte man die tiefste Stelle des Sees mit 20
m erreicht. Im Juli waren die größten Schwierigkeiten
beim Dammbau überwunden, die Strecke von der Vorstadt
bis Thurow-Horst war bis auf 3 km fertig, so daß man
jetzt mit der Eröffnung zum 1. Februar rechnete. Nach
anderthalbjähriger Bauzeit feierten die Arbeiter Mitte
November 1907 die Fertigstellung des Dammes. Die danach
anfallenden Arbeiten waren im Vergleich dazu nur noch
Feinheiten; so wurde die Strecke am 12. 6. 1908
landespolizeilich abgenommen und am 30. 6. 1908
feierlich eröffnet. Das bisher gestellte Ziel war mit
der Inbetriebnahme erreicht.
43) LZ Nr. 74 vom 26. 6. 1906
80
81
6. Die Verbindung mit Mecklenburg
Ratzeburg war durch die Kleinbahn mit dem Gebiet bis zur
Landesgrenze verbunden. Zwar war das Ziel damit
erreicht, doch die Pläne und vor allem Wünsche, gingen
noch weiter. Man wollte auch die mecklenburgischen Orte
Carlow und Schönberg an diese Bahn anschließen. Die
Ideen hierzu waren schon während der Planungen für die
Verlängerung bis nach Thurow aufgetaucht, doch die
mecklenburgische Regierung hatte sich damals konstant
geweigert, in diesem Gebiet eine Eisenbahn errichten zu
lassen. Die Weiterführung der Ratzeburger Kleinbahn von
Thurow-Horst nach Carlow war

W. Lütt, Lokomotivführer der Ratzeburger Kleinbahn
Foto: Kreismuseum Ratzeburg
dann Verhandlungsgegenstand am 28. 2. 1908 auf dem
Landtag für das Fürstentum Ratzeburg. Es sollten 50000
Mark aus dem Landesfonds für den Bau bewilligt werden,
40000 Mark hatten die Carlower selbst aufgebracht und
aus der herrschaftlichen Kasse sollten 60000 Mark
fließen, während die den Bau ausführende
Kleinbahngesellschaft die restlichen 150000 Mark
beisteuern wollte. Gegen diese Vorlage richtete sich
eine Petition der Schönberger, die in der Bahn eine
große Konkurrenz für ihre Stadt sahen. Wenn überhaupt
eine Bahn gebaut werden sollte, dann müßte sie bis nach
Schönberg führen. Die Vorlage war heiß umstritten,
Gegner und Befürworter hielten sich die Waage, so auch
in der geheimen Abstimmung, die mit 10 : 10 bei
Stimmengleichheit das Projekt ablehnten. Vorerst war an
eine Weiterführung also nicht zu denken.
Anderthalb Jahre später meldete die Lauenburgische
Zeitung, daß der Bahnbau gesichert wäre, wodurch teilte
sie allerdings nicht mit. Wenig später ging eine von 15
Landtagsmitgliedern unterzeichnete Petition an die
großherzogliche Regierung ab. Jetzt mußte die
Bewilligung der 50000 Mark gesichert sein, da im Landtag
nur 21 Mitglieder saßen. Schönberg stand aber immer noch
in Opposition und forderte die sofortige Weiterführung
bis in die Stadt. Ratzeburg hätte Schuld daran, daß die
Bahn in Carlow enden sollte. „Ratzeburg wünscht die
Weiterführung auf Schönberg nicht, um den Verkehr aus
dem Carlower Winkel anzuziehen, sonst hätte wohl eine
Verständigung mit dem hiesigen Magistrat von Anfang an
herbeigeführt werden können. Statt dessen aber wurde das
Projekt mit Carlow im geheimen betrieben, und der
Landtag sozusagen mit der Vorlage überrumpelt" 44). Die
Geschichte der Verbindung
44) LZ Nr. 105 vom 7. 9. 7909
81
82
mit Mecklenburg geht hier zu Ende, die Zeitumstände
haben es nicht mehr zu einem Anschluß kommen lassen,
obwohl festgehalten werden muß, daß eine
Eisenbahnverbindung der beiden Städte Ratzeburg und
Schönberg sich aller Wahrscheinlichkeit nach sehr
positiv ausgewirkt hätte. Zweifelhaft allerdings bleibt,
welche der beiden Städte mehr Nutzen von der
Bahnverbindung gehabt hätte.

Die Ratzeburger Kleinbahn mit „Püster"
Foto: Kreismuseum Ratzeburg
Klicken ins Bild vergrößert die Darstellung!
Nach dem 1. Weltkrieg scheint sich noch einmal die
Möglichkeit zu einer Verbindung nach Osten zu bieten.
Jetzt allerdings sollte die Bahn nach Gadebusch
weitergeführt werden, und das mecklenburgische
Ministerium schien bereit zu sein, seine Meinung zu
ändern. Am 23. 8. 1920 richteten die Bürgermeister Dr.
Goecke aus Ratzeburg und Reinhard aus Gadebusch an den
Regierungspräsidenten den Freigabeantrag für den Bau
einer normalspurigen Kleinbahn von Klein Thurow über
Roggendorf-Groß Salitz nach Gadebusch. Vor der
Weitergabe an den Minister wies der Regierungspräsident
schon auf die Aussichtslosigkeit des Projektes wegen der
derzeitigen hohen Preise hin, auch die Rentabilität
schien ihm nicht gewährleistet. Die Regierung in
Schwerin wies von Anfang an darauf hin, daß mit einer
finanziellen Unterstützung nicht zu rechnen wäre.
Andererseits wünschte aber die Regierung neben der
Planung in Richtung Gadebusch auch das Projekt der
Verbindung mit Schönberg wieder aufzunehmen.
Die Hoffnungen auf eine solche Verbindung wurden
entscheidend getrübt, als der Plan aufkam, die Strecke
Rehna-Schönberg zur Reichsbahnstrecke auszubauen, „so
ist für die Strecke Klein Thurow-Gadebusch fast gar kein
Verkehr zu erwarten, da dann von Schwerin alles direkt
über Schönberg nach Lübeck befördert werden wird auf dem
kürzesten Wege. Es ist für die Ratzeburger Kleinbahn
dann zu erwarten, daß sogar ein Teil des jetzt
bestehenden Verkehrs in Zukunft nicht mehr sein wird, da
dann die Interessenten der Bahn, die Beziehungen nach
Schwerin haben, von Klein Thurow direkt nach Schwerin
über Gadebusch verladen werden, sodaß dieser Verkehr
sodann
82
83
der Stammstrecke Ratzeburg-Thurow in Zukunft
verlorengehen würde" 45). Dafür sollte der Anschluß von
Klein Thurow über Groß Salitz nach Wittenburg gebaut
werden. Die Verhandlungen wurden zwar noch eine Weile
weitergeführt, verliefen aber schließlich im Sande, so
daß es beim Endpunkt der Ratzeburger Kleinbahn in Kl.
Thurow blieb.
7. Betriebsergebnis der Kleinbahn
Gehen wir jetzt wieder zum Ausgangspunkt der Ratzeburger
Kleinbahn zurück und fragen wie sich die Bahn entwickelt
hat und ob sie die sehr hoch gesteckten Erwartungen
erfüllen konnte 46).
Die Strecke von Ratzeburg Stadt zum Bahnhof hatte eine
Länge von 2900 m. Etwa in der Mitte lag die Haltestelle
St. Georgsberg, die als Bedarfshaltestelle eingerichtet
wurde. Die Möglichkeit direkter Tarife wurde eingeräumt,
d. h. man konnte in Ratzeburg Stadt auch Fahrkarten
direkt nach Berlin, Hagenow oder Büchen lösen. Es
verkehrten täglich 13 Zugpaare zwischen der Stadt und
dem Bahnhof, vom 1. 5. 1904 sollten es 14 sein, die von
13 Beschäftigten bedient wurden. Insgesamt wurden im
ersten Betriebsjahr 33303,41 Mark an Einnahmen erzielt,
denen Ausgaben in Höhe von 28874,93 Mark
gegenüberstanden. Nach Abzug von Rücklagen blieb ein
verfügbarer Gewinn von 710,61 Mark übrig. Verglichen mit
der Rentabilitätsberechnung ergab sich bei den Einnahmen
ein Minus von 4660,59 Mark, bei den Ausgaben ein
Mehrbetrag von 6207,93 Mark. Insbesondere entwickelte
sich der Personen- und Gepäckverkehr weit unter den
Erwartungen, hier schlug das Minus mit rund 10000 Mark
zu Buch, dabei entwickelte sich der Personalverkehr im
Sommer durch die Ausflügler wie

Ratzeburger Kleinbahn mit Bahndamm
Foto: Kreismuseum Ratzeburg
Klicken ins Bild vergrößert die Darstellung!
erwartet am besten. Die Einnahmen der III. Klasse im
Juli 1903 waren dreimal so hoch wie die des Dezembers
desselben Jahres. Die weitere finanzielle Entwicklung
der Bahn ergibt sich aus den Diagrammen.
45) StA RZ 1 B 23c, Schreiben Lenz & Co. an Dr. Goecke
vom 23. 8. 1921
46) Die für dieses Kapitel sehr aufschlußreichen
Geschäftsberichte sind leider nicht alle erhalten
geblieben; sie enden 1932, auch fehlen 2 Jahre aus der
Inflationszeit. Der allgemeine Trend läßt sich m. E.
dennoch klar erkennen.
83
84

84
85

85
86

86
87
Daraus wird deutlich, daß bis zur Verlängerung der Bahn
noch Thurow der in der ersten Rentabilitätsberechnung
ausgewiesene Überschuß nicht erzielt werden konnte. Noch
deutlicher wird das Mißverhältnis, wenn man den
Betriebsüberschuß mit dem verbleibenden Gewinn, das ist
die nach Abzug aller vorgeschriebenen Rücklagen zur
Dividendenverteilung übrig bleibende Summe, in Relation
setzt. Für das 2. Geschäftsjahr konnten die ersten
Zinsen ausgezahlt werden, die Höhe wurde mit 0,4%
festgelegt. Das war ein Betrag, der hinter den
Erwartungen weit zurück blieb, man hatte also einen
Zinsverlust von
3,1%, verglichen mit den übrigen Geldanlagen
hinzunehmen, 1,2% hatte man vorhergesagt.
An der weiteren Entwicklung läßt sich am Beispiel der
insgesamt gesehen doch kleinen und relativ unbedeutenden
Einrichtung der Ratzeburger Kleinbahn die politische
Entwicklung mit ihren Wirkungen auf wirtschaftliche
Unternehmen ablesen. Bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges
ist ein deutlicher Anstieg der Gewinne zu vermerken,
1913/14, am Vorabend des Krieges, dann auch ein
Krisenjahr in der Eisenbahnentwicklung, während des
Krieges wieder ein verhaltener Aufschwung bis 1917/18;
der völlige Zusammenbruch der alten Ordnung spiegelt
sich in den Betriebsergebnissen für 1918-21 wider. Die
Inflation brachte die Kleinbahn tief in die roten
Zahlen, noch tiefer sogar als zur Zeit der größten
Arbeitslosigkeit 1932. In der sogenannten Phase der
wirtschaftlichen Stabilität, erkennt man auch hier eine
gewisse Konsolidierung, aber wie im Großen so war es
auch im Kleinen nur ein Schein; die Jahreswende 1927/28
deutete den Abstieg bereits an und Mitte 1932 hatte die
Kleinbahn einen absoluten Verlust von über 70000
Reichsmark erwirtschaftet. Das Ende sowohl der Republik
als auch der Kleinbahn kündigte sich an.
8. Das Ende der Ratzeburger Kleinbahn
Die Kriegsfolgeerscheinungen hatten der Kleinbahn einen
großen wirtschaftlichen Schaden zugeführt, von dem sie
sich nie wieder richtig erholen konnte. Auch die
Konsolidierung Mitte der 20er Jahre war nur scheinbar.
Der Abschluß des Rechnungsjahres 1929/30 wurde mit einem
Verlust von 54000 Reichsmark erwartet, die Schuldenlast
betrug insgesamt rund 189000 Reichsmark. Dies war das
Signal für die Gesellschaft, wirksame Schritte zur
Sanierung der Bahn einzuleiten.
„Wir sind deshalb angesichts der von Jahr zu Jahr
steigenden Verlustbeträge nicht mehr in der Lage,
unseren geldlichen Verpflichtungen nachzukommen, und die
Bahn so zu unterhalten, wie es zur ordnungsgemäßen
Durchführung des Betriebes notwendig ist. Wir können es
aber auch nicht verantworten, die Schuldenlast unserer
Gesellschaft noch zu vergrößern, da wir festgestellt
haben, daß schon jetzt - im Falle des Abbruchs der Bahn
- aus dem Verkauf der Substanz die Hauptgläubiger kaum
befriedigt werden können" 47).
Das waren klare Worte: die Bahn war absolut unrentabel
geworden, und man trug sich mit der Aufgabe des ganzen
Unternehmens. Die Gesellschaft sah sich veranlaßt, in
Konkurs zu gehen, wenn nicht eine gründliche Sanierung
gelänge. Vor allem galt es, die Schuldenlast und die
damit verbundenen Zinsen ein für alle Male zu tilgen.
Wenn die Bahn aber weiterhin rentabel wirtschaften
sollte, so müßte der Oberbau erneuert werden, d. h. die
Schienen müßten eine größere Traglast aufnehmen können.
Man war auch nach dieser Kapazitätsvergrößerung sich
darüber im klaren, „daß mit einer nennenswerten
Steigerung des Verkehrs nicht gerechnet werden kann"
48). Hinzu
47) LAS 309/26048, Schreiben Vorstand der Kleinbahn AG
an Minister für Handel und Gewerbe vom 30. 7. 1930
48) ebenda
87
88
kam, daß auf vielfachen Wunsch der Bevölkerung im
Geschäftsjahr 1928/29 eine Omnibuslinie für den
Personenverkehr zwischen Bahnhof und Stadt eingerichtet
worden war. Um einer anderen Gesellschaft zuvorzukommen,
übernahm die Kleinbahn AG den Kraftwagenverkehr in
eigener Regie. Dazu mußte sie sich allerdings mit einem
Darlehen von 48000 Reichsmark weiter verschulden.
Eine durchgreifende Sanierung war also nur mit
zinsfreien Geldern möglich, deshalb sollte der Staat aus
dem Kleinbahnunterstützungsfonds 200000 Reichsmark
bewilligen, sowie für 50000 RM neu auszugebende Aktien
übernehmen, Kreis, Stadt und Lenz & Co. sollten die
gleiche Summe neuer Aktien übernehmen. Doch der Minister
hatte für eine Schuldenabdeckung kein Geld zur
Verfügung. In dieser Situation faßte der Aufsichtsrat am
1. 10. 1930 den Beschluß, die Bahn stillzulegen. „Das
Unternehmen arbeitet mit jährlich zunehmenden
Fehlbeträgen. Beihilfen sind nicht zu erlangen, so daß
nichts anderes übrig blieb, als den Betrieb
einzustellen, wenn das Unternehmen nicht dem Konkurs
verfallen Soll" 49). Die Bahn sollte der Reichsbahn und
der LBE kostenlos übergeben werden, wenn sie sich zur
Übernahme der Schulden bereit erklären würden. Als
Hauptaktionär sollte sich zunächst der Staat erklären.
Eine Stillegung oder Übergabe der Bahn wurde vorerst
hinausgeschoben. Um die Einnahmen günstiger zu
gestalten, erhöhte man die Frachtsätze mit Zustimmung
aller Beteiligten und Betroffenen. Sowohl die Reichsbahn
als auch die Direktion der LBE wollten dieses
Schuldenpaket nicht übernehmen. 1933 war es schließlich
soweit, trotz größter Sparmaßnahmen sank das
Betriebsergebnis dermaßen, daß ohne fremde Hilfe die
Bahn nicht mehr zu unterhalten war: die Stillegung wurde
beantragt. „Die Generalversammlung wolle beschließen,
beim Herrn Regierungspräsidenten bzw. bei dem
zuständigen Herrn Minister die Stillegung der
Ratzeburger Kleinbahn zum 1. Oktober 1933 sowie den
Abbruch der Bahn und die Auflösung der Ratzeburger
Kleinbahn-Aktiengesellschaft zu beantragen" 50).
Die Kleinbahn war nicht mehr lebensfähig, die durch den
Abbruch entstehenden Nachteile wurden nicht mehr als
sehr schwerwiegend angesehen. Die Reichsbahndirektion
hatte bereits die Genehmigung zur Stillegung erteilt, da
wandte sich die Deutsche Arbeitsfront dagegen, „man muß
bei Verkehrsunternehmungen über den Ertrag des
Unternehmens das Gemeinwohl sehen, d. h. den indirekten
Nutzen, den die Bahn für die Anlieger hat" 51).
Tatsächlich erreichte sie auch die Zurücknahme der
Genehmigung, weil der Abbruch nicht der
„nationalsozialistischen Zielsetzung in
verkehrspolitischer Hinsicht" entspracht. „Die
Reichsbahndirektion vertritt wie die Regierung die
Auffassung, daß die Stillegung der Kleinbahn mit allen
Mitteln verhindert werden müsse, obschon bei dem
bestehenden Unterschuß von über 100000 Reichsmark
erhebliche Schwierigkeiten vorhanden sind" 52).
Seit dem 8. 10. 1933 ruhte der Personenverkehr, Lenz &
Co., sah keine Möglichkeit, die Stillegung auch des
Güterverkehrs zu umgehen, da bei den Beteiligten -
Kreis, Stadt, Gemeiden und Gütern - kein Interesse mehr
an der Bahn bestünde. Dennoch sollte der Güterverkehr
zunächst bis zum 1. 4. 1934 weitergeführt werden, Lenz &
Co. sollte versuchen, aus dem
Arbeitsbeschaffungsprogramm Mittel für die notwendigen
Arbeiten am Oberbau zu bekommen; erst wenn keine Gelder
bewilligt werden würden und auch das Interesse nicht
wieder gehoben werden könnte, dann müßte man wohl oder
49) ebenda, Regierungspräsident an Minister für Handel
und Gewerbe am 10. 10. 1930
50) LAS 309126049, Beschluß auf der a. o.
Generalversammlung am 8. 9. 1933 51) ebenda, Schreiben
an Regierungspräsident am 4. 10. 1933
52) ebenda, Vermerk des Regierungspräsidenten vom 9. 10.
1933
88
89
übel dem Stillegungsantrag zustimmen 53). Inzwischen war
nur noch eine Lokomotive betriebsfähig, aber auch die
würde binnen weniger Wochen nicht mehr zu gebrauchen
sein. Deshalb beantragte die Generalversammlung erneut,
die Stillegung zu genehmigen. Das geschah am 1. 2. 1934,
mit dem Abbruch sollte noch gewartet werden, vielleicht
ergäben sich noch Möglichkeiten, das Unternehmen zu
sanieren. Diese Möglichkeiten stellten sich schon bald
als reine Wünsche heraus, so wurde am 1. 4. 1934 auch
der Güterverkehr eingestellt. In der Generalversammlung
vom 25. 9. 1934 wurden die Liquidatoren bestellt, drei
Jahre später war das Unternehmen verschwunden. Etwas
über 200000 Reichsmark hatte der Verkauf eingebracht,
die Gläubiger konnten also bei weitem nicht befriedigt
werden.

Inselstadt Ratzeburg
Foto: Kreismuseum Ratzeburg
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Damit ist das Kapitel „Ratzeburger Kleinbahn" zu Ende.
50 Jahre hatte man um einen direkten Eisenbahnanschluß
gekämpft, als es endlich so weit war, hatte die Zeit
schon ganz andere Zeichen gesetzt. Mindestens seit dem
1. Weltkrieg wurde klar, daß die Bahn zu spät kam, wenn
auch vielleicht nicht 50 Jahre, 30 Jahre bestimmt. Es
zeigte sich aber auch, daß nicht richtig kalkuliert
wurde: die Verbindung bis zur Stadt war von vornherein
unrentabel, aber auch die Verbindung bis nach Thurow
konnte keine Verbesserung bringen. Das immer wieder
zitierte Hinterland fiel aus, Ratzeburg war kein
Handelsplatz, die wirtschaftliche Orientierung richtete
sich im Norden nach Lübeck, im Süden nach Mölln aus. Für
diese Städte war Ratzeburg mit dem von der Kleinbahn
erschlossenen Gebiet das Hinterland. Der stärker
aufkommende Kraftverkehr versetzte der Kleinbahn nur
noch den letzten Stoß, Ursache für ihren Untergang war
er damals nicht. Die Zeit, sich einen potentiellen
Eisenbahnkundenstamm aufzubauen, war nicht mehr da. Die
Zukunft der Kleinbahn wurde gemessen an der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands, das zur
Zeit der Eröffnung der Linie bis Thurow aber im
wesentlichen schon ein Industriestaat war. Die Zeit, in
der die Landwirtschaft die wirtschaftliche Entwicklung
bestimmte - wie bei der Ratzeburger Kleinbahn - war
vorbei.
53) ebenda, Vermerk des Regierungspräsidenten am 17. 10.
1933.
Aus: Dr. Hansjörg Zimmermann -
Beiträge zur Geschichte Ratzeburgs
Lübeck, 1973.
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