Da die Theilnahme unserer
ländlichen Bevölkerung an den großen Weltbegebenheiten bis in die
neuere Zeit hinein wesentlich durch den öffentlichen Gottesdienst
vermittelt worden ist, so dürfte es nicht ohne Interesse sein,
einmal übersichtlich zusammenzustellen, welche Veränderungen die
vorgeschriebenen agendarischen Formeln, soweit sie sich auf die
Zeitverhältnisse beziehen, im Laufe der letzten 80 Jahre
durchgemacht haben. Als Beispiel dafür sind hier die im Nusser
Kirchenarchiv befindliche, auf das Formular des „allgemeinen
Kirchengebets“ bezüglichen Kämmereiverordnungen und Senatsdecrete
sowie sonstige Verfügungen in chronologischer Reihenfolge
aufgeführt.
Zwei Jahrhunderte hinduch haben die Gemeindeglieder des lübeckischen
Staates, zu dem ja bis 1683 auch die Stadt Mölln cum pertinentiis
gehörte, mit dem von dem Superintendenten Andreas Pouchenius
(1575-1600) verfaßten allgemeinen Kirchengebet allsonntäglich die
Bitte ausgesprochen: „So laß demnach DIE RÖMISCHE KAISERLICHE
MAJESTÄT, UNSER OBERHAUPT, wie auch unsre Regenten und Obern immer
sitzen bleiben vor Dir. Erzeig
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ihnen Güte und Treue, die sie behüten, und erfülle zu Deines heil.
Namens Ehre, DES REICHES, des Landes und unsrer Stadt Heil alle ihre
dahin zielenden Anschläge.“
Nachdem am 6. August 1806 der Kaiser
Franz II. die deutsche Kaiserwürde niedergelegt hatte, konnte diese
Formel natürlich nicht bestehen bleiben. Bereits unter dem 23.
August bestimmt daher ein Kämmereirescript: „daß aus dem
Kirchengebet von nun an die Worte: die Römische Kaiserl. Majestät,
unser Oberhaupt, imgleichen die Worte: des Reiches wegzulassen
seien.“ Die Lücke wurde jedoch bald wieder ausgefüllt. Am 20.
Februar 1811, nachdem die Stadt Lübeck mit Gebiet dem französischen
Kaiserreich offiziell einverlebt worden war, erschien ein Befehl des
Gouvernement des Départements de l’Ems supérieure, des bouches du
Weser et des bouches de l’Elbe, vom Prinzen von Eckmühl
unterzeichnet, daß fortan an die Stelle der Römischen Kaiserlichen
Majestät u. s. w. die Worte zu setzen seien: „LASZ NAPOLEON I.,
KAISER DER FRANZOSEN UND KÖNIG VON ITALIEN, UNSER OBERHAUPT, SOWIE
AUCH SEINE GEMAHLIN, DIE KAISERIN MARIE LOUISE IMMER SITZEN BLEIBEN
VOR DIR." Mit besonderer Umständlichkeit wird das bevorstehende
erfreuliche Ereigniß in der kaiserlichen Familie behandelt. Es
findet sich darüber ein ausführlicher Erlaß des Gouvernements, der
es verdient, wörtlich mitgetheilt zu werden. Er ist auf einem großen
Oktavbogen sehr sauber gedruckt und lautet folgendermaßen:
Département des Bouches de l’Elbe
Au nom de sa Majesté de l’Empereur
La commission de Gouvernement des Dèpartements de l’Ems supérieur
des Bouches du Weser et des Bouches de l’Elbe
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Sur le rapport du conseiller d’Etat, Intendant de l’Intérieur et des
Finances
Arrêté:
Art. 1er: Les Ministres de tous les cultes feront dans leurs églises
respectives tous les jours, aux quels se célèbrent les offices des
prières pour l’heureuse lélivrance de S. M. l’Impératrice et Reine.
Art 2. Dans les rituels, ou se trouvent des formules adoptées pour
une pareille circonstance, on remplira l’espace laissé en blanc par
le nom de Marie Louise, Impératrice des Français, Reine d’Italie.
Art. 3. Dans les communions, où le rituel ne renferme point de ces
formules de prières, les ministres en rédigeront de convenables, en
exprimant les voeux, que les peuples doivent adresserá Dieu pour un
événement, au quel est attaché le bonheur de l’Empire et de son
Auguste Souverain.
Donné au Palais du Gouvernement le 22 Février 1811
Signé: Le maréchal Prince d’Eckmühl
Par le Gouvernement général
l’Auditeur au Conseil d’Etat,
Sécretaire général de la commission de Gouvernement
Signe: Petit de Beauverger
Pour l’Ampliation
le Conseiller d’Etat, l’Intendant de l’Interieur et des Finances
le comte de Chaban
Pour copie conforme
le maître de requêtes, Préfet des Bouches de l’Elbe
Signé: Le Baron de Coninck.
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Nachdem das hier erwähnte Ereignis eingetreten war, richtete der
Secretär der Kämmerei an das hiesige Pastorat folgendes Schreiben,
datirt vom 26. März 1811: „Ew. Wohl-Ehrwürden ersuche ich Namens des
Herrn der Kämmerei Sonntag d. 31. huj. in einer der Wichtigkeit des
Gegenstandes angemessenen Predigt dem Allerhöchsten für die
glückliche Entbindung der Kaiserin Louise von einem Prinzen zu
danken und eine schnelle Wiedergenesung der Hohen Wöchnerin zu
erflehen. Ein besonders dazu ausgearbeitetes Kirchengebet wird
tempestive nachgesandt *) werden. Ueberdies ist gedachten Tages
Morgens von 6-7, Mittags von 12-1 und Abends von
5-6 Uhr mit allen
Glocken dortiger Kirche zu läuten.“
Mit der am 5. December 1813 erfolgten Befreiung Lübecks kamen die
Worte: Napoleon I. etc. wieder in Wegfall, und an deren Stelle
wurde der allgemeine Ausdruck: „unsere Oberen“ gesetzt. Dabei
scheint es eine Zeitlang verblieben zu sein. Vielleicht, daß man die
Neuordnung der Dinge noch nicht für gesichert genug hielt, um eine
Formularänderung zu verfügen. Erst unter dem 1. April
1817 ordnet
das Landgericht an, daß künftig der betreffende Passus im
allgemeinen Kirchengebet folgendermaßen zu lauten habe: „Schütze und
segne DEN GESAMMTEN DEUTSCHEN BUND; laß unsre Regenten und Obern
immer sitzen bleiben vor Dir; erzeige ihnen Güte und Treue, die sie
behüten, und erfülle zu Deines heil. Namens Ehre, Deiner Kirche, DES
DEUTSCHEN VATERLANDES und unsrer Stadt Heil alle ihre dahin
zielenden Anschlage.“ 31 Jahre hindurch hat diese Formel
ununterbrochen ihre Geltung behalten. Das Jahr 1848 brachte auch
hierin eine Umwälzung. Am 29. Juli 1848 verfügt das Landgericht, daß
von nun an die auf die allgemeine Lage sich beziehende Fürbitte in
folgender
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*) Findet sich nicht bei den Akten.
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Form zu halten sei: „In Deine väterliche Obhut befehlen wir das
gesammte deutsche Vaterland. SCHÜTZE UND SEGNE DEN HOHEN
REICHSVERWESER, wie auch unsre Regenten und Obern etc.“ Allein
schon nach anderthalb Jahren heißt es in einem Schreiben des
Landgerichts-Actuars vom 8. Januar 1850: „Ew. Hoch-Ehrwürden habe
ich im Auftrag des Landgerichts hierdurch anzuzeigen, wie in Folge
der Installirung der neuen provisorischen Bundescommission zu
Frankfurt a. M. geschehenen Rücktrittes des deutschen
Reichsverwesers des Letzteren im sonntäglichen Kirchengebete nicht
mehr zu gedenken, mithin die Worte „den Hohen Reichsverweser“ von
jetzt an wegzulassen seien.“ 16 Jahre hindurch ist dann wieder die
im Jahre 1817 festgesetzte Formel in Gebrauch gewesen, bis im Juli
1866, acht Tage nach der Schlacht von Königgrätz, der Senat
folgendes Decret erließ: „Es hat der Senat mit Rücksicht auf die
jetzigen politischen Verhältnisse beschlossen, daß im allgemeinen
Kirchengebet an die Stelle des Satzes: Schütze und segne den
gesammten deutschen Bund der folgende Satz zu treten habe:
„Insbesondere bitten wir Dich um Deinen Segen FÜR UNSER GESAMMTES
DEUTSCHES VATERLAND; sei Du sein starker Schutz und Schirm und laß
Glauben und Treue, Kraft und Einigkeit seinen Ruhm und seine Ehre
sein.“ Aber auch diese Formulirung wurde durch die Ereignisse wieder
umgestroßen. In dem letzten auf diese Angelegenheit bezüglichen
Decret vom 25. Januar 1871 heißt es: „Es hat der Senat mit Rücksicht
auf die Umgestaltung der politischen Verhältnisse nach stattgehabter
Uebertragung der deutschen Kaiserwürde auf den König Wilhelm von
Preußen beschlossen, daß in dem allgemeinen Kirchengebete folgende
Stelle einzuschalten sei: „Insbesondere bitten wir Dich um Deinen
Segen FÜR DAS DEUTSCHE REICH. Sei Du sein starker Schutz und Schirm
und laß Glauben
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und Treue, Kraft und Einigkeit seinen Ruhm und seine Ehre sein.
SEGNE DEN DEUTSCHEN KAISER, KÖNIG WILHELM VON PREUSZEN; nimm in Deine
gnädige Obhut die Oberen unseres Freistaats etc.“
Möge es bei dieser Formel für lange Zeit sein Bewenden haben!
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